Die Hebamme
Summen begleitete sie, als sie sich auf den Ausgang zubewegte. Sie drückte die rote Tür auf und dachte, dass sie vermutlich nur den heftigen Regen gehört hatte, der ihr jetzt ins Gesicht schlug.
Frieder betete nicht. Wie immer, wenn er die heilige Elisabeth aufsuchte, hatte er sich in den Nordchor begeben. Seine Spur ließ sich an dem Stroh verfolgen, das aus seinen abgelaufenen Holzschuhen gerieselt war. Er hatte sie in die Jackentaschen gestopft, damit das Krachen seiner schweren Schritte niemanden aufschreckte. Er wollte ungestört sein, denn dort, in einer Nische neben der überwölbten Gruft, stand sie, die er liebte.
Frieder wusste nichts über die Legende der frommen Fürstin, die man zu einer Heiligen erklärt hatte. Er wusste auch nicht, dass ihr Grab von Pilgern aufgesucht worden war, deren Kniefälle im Laufe der Jahrhunderte die Stufen der geheiligten Stätte ausgehöhlt hatten.
Er kniete vor der zierlichen Gestalt, die stets regungslos auf ihn wartete. Frieder berührte sie nicht, um zu erfahren, dass sie aus Holz geschnitzt war. Ihn machte es glücklich, sich an der roten Farbe ihres Kleides zu erfreuen und am Blau ihres Mantels. Die kleine Kirche, die sie auf der linken Hand balancierte, sah aus wie ein Geschenk, das er nie annehmen würde. Er war einfach zu groß für so kleine Sachen.
Die Kälte drang durch das feuchte Wolltuch von Frieders Hose, und seine Knie wurden zu Stein wie der Boden unter ihnen. Er kannte keine Gebete, denn er konnte sich Worte schlecht merken, die für ihn keinen Sinn machten. Er hatte seine eigene Art gefunden, mit ihr zu reden: Er summte ihr etwas vor, er holte seine Stimme von tief unten aus der Brust. Für Elisabeth summte Frieders Herz.
Er faltete seine Hände, die so groß waren, dass er den Kopf eines Kindes umschließen konnte. Die Leute nannten ihn einen Riesen. Frieder hatte keine Ahnung, ob es schlimm war, ein Riese zu sein. Man hatte ihm entweder nichts darüber erzählt, oder er hatte es vergessen. Die Leute jedenfalls gafften ihn an. Sie gingen auf die Seite, wenn er irgendwo auftauchte, den Karren hinter sich, auf dem die Eisenwaren schepperten. Die Leute verschwanden hinter Türen, oder sie liefen ein wenig schneller durch die Dorfgassen und über die Marktplätze einer Stadt. Manchmal blieben sie auch stehen, aber dann sorgten sie dafür, dass sie nicht allein standen. Die Leute waren immer ein Stück weg von Frieder, alle außer seinem Bruder, dem war er nützlich. Das konnte er sich merken, doch manchmal reichte ihm das nicht.
»Bin ich nützlich?«, fragte er dann. Und wenn sein Bruder nicht antwortete, dann fragte er eben noch einmal.
»Bin ich nützlich, Konrad?«
»Ja doch, solange du’s Maul hältst.«
Meistens machte es Frieder nicht viel aus, dass er so mit ihm sprach, er kannte es nicht anders. Alles war so, wie es war, weder gut noch schlecht. Und wenn Konrad etwas von ihm wollte, dann machte er es eben. Vielleicht dämmerte es ihm auch zuweilen, dass er nur deshalb bei ihm bleiben durfte.
Ja, er war ihm sehr nützlich, sogar wenn sein Bruder eine Frau anfassen wollte. Konrad machte sich einen Spaß daraus, wenn eine Angst vor ihm hatte, Frieder nicht. Frieder fasste lieber sich selber an als eine schreiende Frau.
Mit Elisabeth war es anders. Er hätte nie ein Wort dafür gefunden, welchen Ausdruck ihr Gesicht hatte, das von weißen Tüchern umrahmt war. Wenn sie unter ihrer schimmernden Krone auf ihn herabschaute, gab es ihm ein Gefühl, als hätte er etwas Heißes getrunken. Elisabeth war nicht ängstlich. Sie hatte immer ein Lächeln für ihn.
Der Regen fiel nur noch in dünnen Fäden vom Nachthimmel, nachdem er stundenlang heftig auf die Stadt niedergegangen war. Er hatte die Straßen vom Dreck gesäubert, Fäkalien und Abfälle aus den Rinnen gespült und damit auch für eine kurze Zeit den Gestank vertrieben.
Caroline Fessler raffte die Röcke, als sie das Haus des Universitätsapothekers in der Barfüßerstraße verließen. Die Laterne in der Hand ihres Sohnes beleuchtete das schwarz glänzende Pflaster nur sehr unzureichend, und man konnte nicht wissen, was einem vor die Füße kam. Zwar trug sie immer noch Trauer und damit keine empfindlichen Farben, doch es war ihr bestes Kleid, das sie heute gewählt hatte, dem Anlass angemessen. Caroline hatte sich nicht gescheut, einen eleganten Schnitt zu wählen, als sie es nach Bertrams Tod anfertigen ließ, und heute hatte sie mit großer Befriedigung das Kompliment ihrer
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