Die Heidehexe - Historischer Roman
Liebling. Du hast nichts verbrochen. Aber an dir hat man sich schwer versündigt. Nun muss ich dich verlassen. Mehr Zeit wurde mir nicht bewilligt. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich doch auch so sehr, Mutter. Lass mich nicht wieder allein“, rief Isabella dem sich verflüchtigenden Schatten nach.
War es ein Trugbild, dem ich aufgesessen bin, überlegte die Tochter, als sie auf die an der Wand zappelnden Silhouetten starrte, oder bin ich kurz eingenickt?
Es wunderte sie, dass sie nicht in Tränen ausbrach, eher eine gewisse Erleichterung empfand und förmlich fühlte, wie der düstere Schleier auf ihrer Seele sich aufzulösen begann.
Noch größer war ihr Erstaunen am nächsten Morgen. Die Gaukler lachten sie freundlich an, sagten nette Worte. Karina drückte ihr ein Glas warmer Milch mit Honig in die Hand. „Trink, mein Schatz. Damit dein Kind groß und stark wird. Wir freuen uns schon auf weiteren Nachwuchs.“
Alle waren plötzlich sehr besorgt um Isabella, überschütteten sie mit Herzlichkeit. Selbst die bärbeißige Tante Halina zwang sich zu einem Lächeln und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Woher die Wandlung kam, erfuhr das Mädchen nicht. Sie stellte auch keine Fragen, denn sie befürchtete, dass sie erneut in Ungnade fallen würde. Doch als ihre Großmutter, auf zwei Krücken gestützt, aus ihrem Zelt auf sie zuhumpelte und mit Liebkosungen überhäufte, glaubte sie unumstößlich daran, dass die Erscheinung ihrer Mutter in der gestrigen Nacht keine Einbildung gewesen war.
Was hat die ganze Geheimniskrämerei zu bedeuten, sinnierte Isabella, als sie sich abends wieder im Bett hin und her wälzte, welches dunkle Kapitel der Familiengeschichte soll mit allen Mitteln vor mir verborgen bleiben? Ob die Morde an den Grimmshagenern, dem schwarzen Harras und dem Albino damit zusammenhängen? Sie sind nicht aufgeklärt worden, obwohl Schultheiß, Vogt und Amtmann aus sämtlichen niedersächsischen Regionen jeder noch so unsinnigen Unterstellung nachgingen und Büttel und Fronboten über Land sandten, die in Häusern von Verdächtigen das Unterste nach oben kehrten, um irgendwelche Beweise zu finden.
Schweißnass warf sie sich auf die andere Seite ihres Lagers.
Auch im Zigeunerlager haben sie mehrmals alles durchwühlt, ohne fündig geworden zu sein, grübelte sie.
Wer also war so geschickt, keinerlei Spuren an den Ta torten zu hinterlassen? Was sie besonders interessierte, war, ob die Gewaltserie ein Ende gefunden hatte, oder ob weitere Verbrechen geschehen würden.
Rinaldo war mitunter Tage, ja, Wochen unterwegs. Er sprach nie darüber, wo er sich in den Zeiten seiner Abwesenheit aufhielt. Wenn er zurückkam, hatte er dunkle Ringe unter den Augen und dermaßen schlechte Laune, dass man ihm besser aus dem Weg ging.
Isabella richtete sich auf, sprang hoch und lief barfuß ins Freie, spürte die Eiseskälte, fröstelte, wollte die Gedanken abschütteln. Es gelang nicht. Im Gegenteil.
Plötzlich schoss es ihr siedend heiß durch das Hirn: Womöglich hat es der Täter noch auf Victor und Alwin abgesehen? Ein verarmter Verwandter der Grimmshagens, der es auf das Erbe abgesehen hat? Es würde an ihn fallen, wenn die Familie vollständig ausgerottet ist. Halt. Jetzt bin ich ja Victors Frau, bekomme ein Kind von ihm. Wir würden den Besitz erben. Um Himmels willen. Soll ich vielleicht die Nächste sein? Sind darum die Zirkusleute auf einmal so nett zu mir, damit ich ihnen nicht auf die Schliche komme? Wer weiß, was sie mit mir vorhaben?
Isabellas Misstrauen wuchs beständig. Zutrauen würde sie die Morde jedem Einzelnen ihrer Familienmitglieder. Ein Menschenleben zählte für die nicht. Sie waren mit allen Wassern gewaschen, zu vielen Schandtaten fähig. Wogen denn die Gefallenen auf den Schlachtfeldern nicht auf der Waage? Geopfert von den Feudalherren für ihre unheiligen Zwecke? Und die unschuldige Bevölkerung, denen die Häuser von den Soldaten angezündet wurden, bevor sie selbst umkamen?
Sie raubten den Ärmsten ihre letzte Habe, schändeten Frauen ohne Zahl, schlugen ihre Männer tot, teilweise wegen des nicht bezahlten Soldes, aus Hunger und Durst, aber auch, weil der Krieg sie verroht hatte, gefühllos für das Leid der anderen, und oft aus reiner Lust am Morden und Brandschatzen. Wo sie entlangzogen, ließen sie versengte Erde zurück.
Isabella hatte viel Zeit zum Nachdenken, und je mehr sie über die den Zweck der Welt grübelte, desto weniger begriff sie ihn.
Seltsam, dass
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