Die Heidehexe - Historischer Roman
Taler horteten, die sie für ihre Heilung hervorkramten. Überall wurden die Zigeuner mit offenen Armen empfangen, hatte es sich doch herumgesprochen, dass ihre Medizin wahre Wunder wirkte. Kranke und Gebrechliche gab es in diesen Zeiten unter jedem Dach. So holte das fahrende Volk leicht die entgangenen Eintrittsgelder durch Heilkunst herein.
Fahren mussten sie in den Frühlingsmonaten rasant und ebenso im Sommer, damit die Spur der Braunschweiger nicht verloren wurde, entging es schließlich keinem, wie Isabella litt. Sie kümmerte sich rührend um die Zwillinge, denen sie die Namen Wilhelm und Alexander gegeben hatte, richtete sich aber mit ihrer Sehnsucht nach Victor fast zugrunde. Es quälte die junge Mutter, so lange nichts von ihm gehört zu haben. Wie war es zu erklären, dass er sich seit ihrem Fortgang nicht ein einziges Mal gemeldet, nie nach ihrem Befinden erkundigt hatte? Interessierte ihn nicht, dass er inzwischen Vater zweier Knaben geworden war?
In tiefer Ratlosigkeit bat Isabella die Großmutter, ihr aus der Hand zu lesen. Die Alte vermochte sehr genau die Zukunft vorauszusagen, versuchte jedoch, in der eigenen Familie diese Gabe möglichst nicht anzuwenden, wollte lieber dem Schicksal ohne Argwohn begegnen.
Die Enkelin ließ sich nicht abweisen, bettelte und flehte. Da vermochte die Zigeunerin ihr den Wunsch nicht abzuschlagen. Und ein wenig neugierig war sie selbst, weshalb Victor kein Lebenszeichen von sich gab.
Lange schaute sie auf die fein geschwungenen Linien in der zarten Hand, zog die Stirn kraus, hüllte sich in Schweigen.
„Sag endlich, was mir blüht“, forderte Isabella.
„Es ist schwierig, in den spärlich ausgeprägten Konturen etwas Konkretes zu erkennen. Ich bin nicht unfehlbar, kann mich durchaus einmal irren. Nur so viel ist gewiss: Eine Person aus dem Heer, die dir am Herzen liegt, hat sich zur Schlange gehäutet. Und auch ihr Fötenspieler, der die Natter aus dem Korb lockte, tiriliert das Lied der Lüge.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst. Wie soll ich deine Worte deuten?“
„Sie bedeuten, dass keine Zeit zu verlieren ist. Wir werden uns noch heute ohne Umwege zum Stützpunkt der Braunschweiger Armee aufmachen und dich dort absetzen.“
„Auf geht’s“, plärrte Pavor, der das Gespräch belauscht hatte.
„Warum kann Pavor eigentlich wie ein Mensch denken und sprechen?“, rätselte Isabella. „Diese Frage spukt mir schon jahrelang im Kopf herum.“
Großmutter lächelte fein. „Das ist eben ein Mysterium, wie es so viele auf der Welt gibt. Die Erde steckt voll unerklärlicher Geheimnisse und Wunder. Man muss nur mit offenen Augen durchs Leben gehen und das Übersinnliche wahrnehmen. Dann wird einem mancher Wiedergänger auffallen. Aber du brauchst nicht alles zu wissen, mein Kind.“
„Isabella, du brauchst nicht alles zu wissen“, krächzte der Rabe zufrieden.
Am nächsten Morgen wurde angespannt und bis es dunkelte, ohne Pause gefahren. Man baute nicht extra Zelte auf, versorgte lediglich die erschöpften Pferde und Raubtiere. Dann quetschte sich die gesamte Schar in den Zigeunerwägen zusammen und schlief mehr schlecht als recht.
Nach wenigen Tagen hatten sie ihr Ziel erreicht. Ungefähr siebenhundert Fuß vom Heereslager entfernt , hielten die Gaukler an.
„Die Soldaten sollen uns nicht sehen“, sagte Luigi. „Von hier ab musst du den Weg allein machen. Wir geben dir die Kutsche, Feuerblut, Herzgestein und deine bis zum Rand mit frischen Medikamenten gefüllte Kiepe mit.“
„Und meine Kinder?“
„Wilhelm und Alexander bleiben in unserer Obhut, bis wir uns wiedersehen, was hoffentlich bald der Fall sein wird.“ „Ich gehe nicht ohne sie.“
Halina fuhr sie an: „Die Gnädigste denkt immer nur an sich. Du solltest dich besser um das Wohlergehen deiner Kleinen sorgen. Meinst du, ein Kriegerquartier ist die geeignete Kinderstube für die beiden?“
„Viele Frauen im Tross haben ihre Kinder dabei.“
„Schlimm genug, wenn es niemand gibt, der ihnen ein behütetes Zuhause bietet. Wir hingegen sind alle für Wilhelm und Alexander da, haben sie lieb. Sei froh, dass du uns hast, undankbares Geschöpf.“
„Lass sie zufrieden, Tante Halina. Du bist keine Mutter und weißt nicht, wie Isabellas Herz blutet, weil sie ihre Zwillinge verlässt“, sprang Karina für die Base in die Bresche.
„Lieb von dir, dass du mich verteidigst, Karina. Leider hat Tante Halina recht. Ich danke euch allen. Ihr seid so
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