Die Heidehexe - Historischer Roman
mit der flachen Hand nach ihm. Der entschwand in den Wolken und schimpfte von oben herab: „Du stinkst, Halina. Du stinkst!“
Isabella musste sich ein Lachen verkneifen, fragte stattdessen: „Was ist mit Bernhard? Darf er auch nicht ins Zelt?“ Er saß immer noch auf dem Hengst und blickte mit traurigen Augen zu ihr herüber.
„Nie und nimmer. Der Bastard mag bei den Pferden schlafen. Soll froh sein, dass meine Neffen ihn mitgebracht haben“, sagte die Zigeunerin verächtlich.
Was hat diese Frau bloß gegen meinen Bruder, überlegte die Kleine, traute sich jedoch nicht, die Tante danach zu fragen, schluckte vielmehr trocken und marschierte an ihrer Seite tapfer durch den Eingang.
Unglaublich, wie viele Menschen auf dem Boden kauerten und sie anstarrten. Es mussten Dutzende sein. Alte, Junge und Kinder grinsten sie an. Vom Jungvolk war einer hübscher als der andere.
„Seid ihr alle meine Verwandten?“, fragte Isabella überrascht. Beim Anblick der farbenfroh gekleideten, fröhlichen Leute fand sie ihre Sprache wieder. Keiner der Anwesenden machte auf sie einen so mürrischen, boshaften Eindruck wie Halina. Augenblicklich wandelte sich die Furcht in Wohlgefallen um.
Auf einem Kissen aus Damast, gefüllt mit Daunenfedern , thronte die dickste Frau, die das Mädchen je gesehen hatte. Ihr Leib war geschwollen wie ein Weinfass, das zu lange im Wasser gelegen hatte, mit wulstigen Speckringen, die das bunt gemusterte Gewand zu sprengen drohten. Schlohweiß türmte sich ein kunstvoll geflochtener Haardutt auf dem breiten Schädel. Hängende Lieder erdrückten die Augen zu schmalen Schlitzen. Kirschrote Wangen blähten sich abwärts, vereinten sich mit dem Doppelkinn, das Hals und Melonenbusen überlappte.
„So habe ich nicht immer ausgesehen“, sagte die Alte freundlich, als sie Isabellas staunendes Gesicht betrachtete. „Auch ich war früher jung und schön, wie heute meine Kinder und Enkel. Komm in Großmutter Giovannas Arme, mein Mädchen. Glücklich bin ich, dass Du endlich in deiner Familie gelandet bist, und preisen will ich diesen Tag, der dich mir gesund und munter geschenkt hat.“
„Ihr seid meine Großmutter?“ Ungläubig schaute Isabella auf die Matrone und ihre weit ausgebreiteten Arme.
„Wirst du wohl deiner Großmutter die Freude machen“, herrschte Halina die sich Sträubende an und versetzte ihr einen Stoß, dass sie direkt auf deren Schoß fiel.
Krakenartig umschlangen feiste Glieder die Kleine. Der Mund glich dem einer Kaulquappe und übersäte Isabella mit feuchten Küssen. Vor Schreck schloss jene beide Augen. Dann der Duft. Nach Sommer, nach Rosen, nach Kindheit und – nach Rubina, um die ihr Herz unsagbar trauerte.
Ein Wunder? Plötzlich kuschelte sich das verlassene Kind an Giovannas wogenden Busen, klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihr fest. Es schien, als wollte sie in den weichen, warmen Leib hineinkriechen, Zuflucht finden vor der Welt, in der sie nichts Gutes erfahren hatte. Dabei sehnte sie sich doch so sehr nach Liebe und Geborgenheit.
Ab und zu hatte Rubina ihre Tochter gehätschelt und getröstet, wenn die Ziehmutter sie wegen einer Unfolgsamkeit verprügelt oder mit Essensentzug bestraft hatte.
„Du bist meine Prinzessin“, hatte sie mit heiserer Stimme geraunt, ihr über die Kupferlocken gestrichen und die Kleine mit köstlichen Speisen verwöhnt. Selten hatte sie gesagt: „Ich hab dich lieb.“ Isabella erinnerte sich genau an jedes einzelne Mal und verwahrte diese Worte wie einen Schatz in ihrem Herzen. Denselben Satz flüsterte ihr jetzt die Greisin ins Ohr, und all der Schmerz sprühte erneut aus dem jungen Menschenkind heraus, gleich einem erloschen geglaubten Vulkan, der ohne Vorwarnung brodelnde Lava erbricht.
Giovanna streichelte ihr sanft den Rücken und murmelte beschwörend: „Weinen erlöst. Darum lass deinen Tränen freien Lauf. Eine Bitte habe ich, bleib bei uns, Liebchen. Großmutter wird dich vor allen Feinden schützen. Nichts Böses soll dir in Zukunft widerfahren. Du hast genug gelitten.“
„Was ist mit Bernhard? Darf er zu uns kommen?“
Giovannas Miene verdüsterte sich. „Er ist bei den Stallknechten bestens aufgehoben. Nimm seinen Namen nicht zu oft in den Mund, wenn du mir nicht die Laune verderben willst.“
Isabella wand sich aus den Armen der Alten. Nichts Falsches von dir geben, durchzuckte es sie. Darum sagte sie: „Ich bin todmüde. Erlaubt Ihr, dass ich mich zum Schlafen zurückziehe?“
„Aber ja, mein Kind.
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