Die Heilanstalt (German Edition)
musste.
Melanie schluckte so nervös wie eine Bühnendarstellerin vor ihrem Auftritt, kurz bevor der Vorhang sich erhebt. Als sie ihn zaghaft ansprach, bekam sie keine Antwort; sie drehte den Kopf und sah, dass Patrick eingenickt war. Melanie biss sich auf die Unterlippe und blieb stumm. In den nächsten Minuten gewannen die Zweifel vorerst wieder die Oberhand, und als Patrick nach einer Weile endlich die Augen aufschlug, hatte Melanie den Mut zum Reden längst wieder verloren.
Der Tee
Als Patrick erwachte, war der Zustand des Wohlbefindens spürbar geschwunden; seine Kehle fühlte sich wieder rau und trocken an.
Er entdeckte Melanie neben sich auf der Bank, die ihn lächelnd ansah. »Na, gut geschlafen?«
Patrick wollte ihr Lächeln erwidern, doch er schaffte es nicht. Er fühlte sich ausgelaugt und kraftlos. Seine Zähne waren von einer schleimigen Schicht überzogen. Als er sich räusperte, verzog Patrick das Gesicht vor Schmerzen; sein Rachen war so empfindlich wie eine entzündete Wunde.
»Was ist denn los?«, fragte Melanie besorgt.
Patrick massierte sich die Schläfen und schüttelte benommen den Kopf. »Nichts, es geht schon.«
Er erhob sich träge von der Bank und schlang die Arme um den Oberkörper; ihn fröstelte, obwohl die Luft im Hof angenehm mild war. Gänsehaut überzog seine Arme, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Mit gesenktem Haupt stand er da und wirkte so hilflos wie ein Kleinkind, das von seinen Eltern am Straßenrand ausgesetzt worden war.
Melanie vernahm ein unablässiges Klappern und begriff erst nach einer Weile, dass es Patricks Zähne waren, die unentwegt aufeinander schlugen. Sie bekam es mit der Angst zu tun, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Patrick ihr zuvor.
»Wollen wir zum Unterhaltungszentrum? Ich brauche etwas zu trinken.«
Er sagte es im Tonfall eines zum Tode Verurteilten, der seine Henkersmahlzeit ordert.
Immer wieder keuchte Patrick trocken und massierte mit verzerrter Miene seine Schläfen. Seine Augen waren gerötet, seine Lippen rau und sein Haar vor Schweiß ganz klebrig. Er glich einem Fieberkranken, dessen Leben nur noch am seidenen Faden hängt. Sein furchtbares Erscheinungsbild machte Melanie sprachlos. Patrick verlor die Geduld und deutete ihr Schweigen auf seine Weise.
»Gut, gehen wir«, sagte er und zog sie mit beiden Händen von der Bank hoch. Bevor sie protestieren konnte, war Patrick schon losmarschiert und zerrte Melanie hastig hinter sich her. Mit starrem Blick ging er auf die Flügeltür zu, hinter der sich der Unterhaltungssaal befand. Melanie stolperte ihm hinterher, da das Tempo für sie viel zu hoch war. Doch anstatt Rücksicht auf sie zu nehmen, beschleunigte Patrick seinen Gang noch und geriet beinah ins Laufen.
Das Unterhaltungszentrum war bereits wieder so menschenüberlaufen wie vor dem Mittagsmahl. Patrick drängte sich durch die Menge und strebte, so wie Melanie es erwartet hatte, gleich zur Theke. Dort machte sie sich von seiner Hand los und sagte ihm, dass sie auf die Toilette müsse. Patrick nickte teilnahmslos, ohne sie anzusehen, und hatte schon einen Arm gehoben, um sich bei einem der beiden Thekenbediensteten bemerkbar zu machen. Sorgenvoll sah Melanie ihn an und beobachtete, wie er auch noch den anderen Arm hob und mit lauten Rufen auf sich aufmerksam machte.
Es ist der Tee , dachte sie.
Auf dem Weg zur Damentoilette blickte sie noch einmal über die Schulter und betrachtete Patrick aus der Ferne. Sie sah, wie er ungeduldig die Hände auf die Theke schlug und die Barkeeper so laut anfuhr, dass sie es sogar aus der Distanz noch deutlich hörte. Melanie sah schockiert wieder weg, während ihr der gleiche Gedanke noch einmal durch den Kopf schoss.
Es ist der Tee …
Sie erreichte die Schwingtür zur Toilette, die sich jenseits des Billard- und des Airhockey-Tisches befand, und drückte sie mit einer Hand auf. In dem blitzsauberen und mit hellem Marmor verzierten Raum war der Lärm des Saals kaum noch zu hören; stattdessen erklang besänftigende Musik aus versteckten Lautsprechern. Melanie mochte diese Ruhe und suchte die Toilette bisweilen einzig aus dem Grund auf, ungestört ihre Gedanken zu ordnen und eine Art innere Einkehr zu halten. Dazu förderlich war der Umstand, dass sie hier zumeist allein war, als bräuchten all die Frauen, die sich im Saal tummelten, niemals ihre Blase zu entleeren. Dies musste Melanie nun allerdings auch nicht; ganz im Gegenteil war sie zum Trinken hier. Wasser gab es nur auf
Weitere Kostenlose Bücher