Die Heilanstalt (German Edition)
Dank des vagen Leuchtens sind die Formen auf der Erde zumindest als Schattenrisse zu erkennen. Die Temperatur ist inzwischen so weit gesunken, dass der Atem sichtbar ist. Janick klappert hörbar mit den Zähnen, worauf Thomas erneut den Zeigefinger auf die Lippen legt.
Der Wächter, der zuvor das Tastenfeld bediente, blickt unbehaglich in die Finsternis. Nach einer kurzen Weile raunt er wie eine geheime Botschaft: »Sie kommen.«
Der andere Wächter hüpft noch aufgeregter von einem Bein aufs andere, während die Frau mit gefalteten Händen vor sich hinmurmelt.
Plötzlich erschallt in der Finsternis ein Geheul wie von mondsüchtigen Wölfen. Es ist noch in weiter Ferne und kaum vom Pfeifen des Windes zu unterscheiden, doch schon jetzt so bedrohlich wie schweres Donnergrollen, das ein Unwetter ankündigt.
Janick sieht seinen Bruder wie gelähmt an und unterdrückt einen Angstschrei. Auf einmal bereut er, dass er mitgekommen ist und wünschte, er wäre in der sicheren Kabine geblieben. Er will nicht sehen, was in Kürze geschehen wird, und möchte am liebsten die Augen schließen. Thomas lehnt sich hingegen noch weiter nach vorn, sodass zu befürchten ist, er werde die Fässer umstoßen und ihr Versteck verraten. Trotz des schneidenden Windes hält er die Augen weit geöffnet, um kein Detail des beginnenden Rituals zu verpassen.
Das Heulen schwillt mehr und mehr an, als die Kreaturen sich dem künstlichen Licht nähern. In der Ferne werden ihre Silhouetten erkennbar, sechs an der Zahl, die nebeneinander herlaufen und rasend schnell heranstürmen; sie gewinnen beständig an Größe, nehmen erschreckende Ausmaße an und stoßen immer wieder im Chor ihr furchtbares Geheul aus. Bald ist das knirschende Getrampel zu hören, das ihre kräftigen Beine auf den Kieseln verursachen, ein trommelndes Beben, das die Erde erschüttert. Wenig später werden ihre Formen sichtbar, nur schemenhaft und ohne Tiefe, und doch unsagbar Furcht einflößend.
Janick wimmert, während ihm Tränen an den Wangen hinab laufen. Thomas starrt weiterhin gespannt nach vorn. Die Torwächter stehen am Rande des Lichts und blicken mit ängstlicher Miene auf die herannahenden Schatten. Die alte Frau bettelt um Gnade, obwohl sie weiß, dass es für sie keine Hoffnung gibt.
Kurz darauf sind die Wesen da und verweilen schnaufend an der Schwelle zum Licht. Sie halten die Schädel gesenkt, sodass ihre gewaltigen Nacken wie Hügel emporragen. Ihr Atem, der aus den speichelnden Mäulern dringt, strebt zum dunklen Himmel empor wie Rauch aus einem Schornstein. Die Bestien schnauben wie erschöpfte Rösser, während ihre Leiber sich aufgeregt heben und senken.
Die Frau kreischt und will die Flucht ergreifen; doch die uniformierten Männer halten sie erbarmungslos fest. Janick weint so bitterlich, dass er kaum noch Luft bekommt.
»Was sind das für Ungeheuer?«, flüstert er schluchzend.
Thomas antwortet nicht und schaut weiterhin wie erstarrt nach vorn; auch in seinen Augen glitzern nun Tränen.
»Du musst jetzt zu ihnen«, sagt der erste Wächter zu der alten Frau.
»Sie erwarten dich«, bestätigt der zweite Wächter.
»Nein, bitte nicht! Ich will nicht!«
Die Frau windet sich stürmisch im Griff der Männer. Doch diese zerren sie hinaus und stoßen sie jenseits des Tors zu Boden. Die Alte stürzt und stöhnt vor Schmerz. Sie bemüht sich wieder aufzustehen, doch schafft es nicht. Die Wächter eilen zurück ins Licht und beobachten, wie eine der Bestien mit einem großen Satz hervorspringt. Wie ein kämpfender Bär richtet das Wesen sich vor dem Menschenopfer auf den Hinterbeinen auf. Als es in dieser Stellung für einen kurzen Augenblick ins Licht gerät, wird seine ganze, schreckenerregende Gestalt sichtbar. Es gleicht einem Werwolf ohne Fell; sein nacktes Fleisch ist von Muskelsträngen durchzogen, die wie Drähte unter der Haut zucken. Seine Arme münden in gewaltigen Klauen, an denen scharfe Krallen hängen. Der Kopf besteht aus einer feuchten Schnauze, in der zwei Reihen spitzer Zähne prangen. Seine Augen sind pupillenlose, dunkelrote Kugeln, in denen Hunger und Wut blitzen.
Das Ungetüm lässt seinen aufgestemmten Leib herabfallen und presst die wehrlose Frau mit den Vorderbeinen auf die Kiesel; es spannt seine Muskeln an, lässt Sehnen und Adern am Hals hervortreten und schickt das Brüllen eines urzeitlichen Raubtiers zum düsteren Himmel empor. Dann erfassen seine blutroten Augen die Frau, die schreiend vor ihm liegt. Das Biest beginnt zu
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