Die Heilerin des Kaisers
und begonnen, mit bloßen Händen wie von Sinnen darin zu wühlen. Ausgraben wollte sie ihren Liebsten, damit er nicht erstickte unter all den Trümmern…
Alles gute Zureden war vergebens. Sie reagierte auf nichts und niemanden. Erschöpft vom vergeblichen Graben hockte sie sich schließlich auf einen Säulenstumpf und starrte mit blicklosen Augen ins Leere. Die blutenden Hände im Schoß verkrampft, wiegte sie den Oberkörper rhythmisch vor und zurück und summte dabei ein Lied, das niemand kannte, vor sich hin.
Dietlinde hatte es oft gesungen, nachdem sich ihr Wesen verwandelt hatte und sie nicht mehr dieselbe gewesen war – diejenige, um die einst der junge Frowein gefreit hatte.
»Man könnte denken, König Heinrichs Heilerin habe den Verstand verloren«, sagte Vater Berchtold fassungslos zur Königin, als er Griseldis, seinen ganz besonderen Schützling, mitten in dem Gewirr aus Gestein, Holz und Mörtel kauern sah.
»Man soll Frau Griseldis umgehend zu mir an den Hof bringen«, befahl Frau Kunigunde. »Sie kann jetzt unmöglich allein in ihrem Haus leben, wo alles sie an Meister Konrad erinnert. Ich selbst werde mich der bedauernswerten Witwe annehmen. Es muss mir gelingen, sie dem Leben wiederzugeben.«
»Ich denke, liebste Schwester, Ihr macht Euch zu viele Gedanken um diese Frau einfacher Herkunft«, kam es kühl von ihrer Base Irmintraut, der die Besorgnis um die »schlichte Kräuterhexe«, wie sie Griseldis abschätzig bezeichnete, zu weit ging»Lasst Euch sagen, liebste Kunigunde, das grobe Bauernvolk ist nicht so empfindsam, wie etwa wir Damen aus hochedler Familie. Dieses Weib wird in Kürze wieder obenauf sein, ohne dass Ihr Euch groß darum bemühen müsstet.«
Befremdet sah die Königin ihre Verwandte an.
»Manchmal habe ich den Eindruck, Ihr seid der Unbarmherzigsten eine. Wie könntet Ihr sonst so gefühllos sprechen, Base?« Damit kehrte sie Frau Irmintraut, die eine Grimasse zog, unwillig den Rücken.
›Gefühllos und eiskalt, das ist Irmintraut in der Tat‹, dachte Vater Berchtold, der Zeuge des kleinen Disputs geworden war. ›Vermutlich ist sie eifersüchtig auf des Königs Medica – so, wie sie auf jede schöne Frau am Hof neidisch ist und diese mit ihrer Missgunst verfolgt,‹
Wieder einmal bedauerte der Mönch es aufrichtig, dass seine sonst so verständige Herrin die offensichtlichen Schwächen ihrer Verwandten nicht sehen wollte beziehungsweise keine Konsequenzen aus ihren Meinungsverschiedenheiten zog und Irmintraut endlich nach Lützelburg zurückschickte.
Ganz allmählich löste Griseldis sich aus ihrer anfänglichen Erstarrung. Sie lebte nun als festes Mitglied des Hofstaates der Königin. Ihr Haus hatte sie seit dem Unglück nicht mehr betreten. Es war verkauft worden und einen Teil des Erlöses durfte sie dazu verwenden, sich seltene Exemplare oder Kopien von medizinischen Werken aus dem Ausland durch reisende Kaufleute besorgen zu lassen. Dies weckte wiederum die ätzende Spottlust von Frau Kunigundes Base.
»So ist es recht«, hatte Vater Odo sie neulich zu einer Hofdame sagen hören, »vor Kurzem hat sie noch die Schweine gefüttert und jetzt kauft sich dieses Geschöpf wissenschaftliche Werke, die sie weder lesen noch verstehen kann. Einfach widersinnig!«
Hier aber irrte Frau Irmintraut – zumindest teilweise.
Griseldis vermochte seit geraumer Zeit sehr wohl zu lesen, und zwar ohne zu stocken, und auch zu schreiben. Die unter Gebildeten übliche Umgangssprache, die sogenannte Lingua franca, derer man sich auch am Hof bediente, verstand sie bestens und beherrschte sie sogar selbst.
Dennoch würde sie bei ihrem ambitionierten Vorhaben der Hilfe Vater Berchtolds bedürfen: Er müsste ihr die erworbenen Schriften aus dem Lateinischen und Griechischen übersetzen. Der Vorteil der Lingua franca bestand darin, dass jedermann aus der Oberschicht diese römische, aus dem Lateinischen entwickelte Sprache sprechen und lesen konnte und zwar quer durch ganz Europa. Die jeweiligen Landessprachen wurden in der Regel nur vom niederen Volk benutzt.
Die Werke der Gelehrten jedoch waren nach wie vor in Lateinisch oder Griechisch verfasst – und das musste der Benediktiner der Heilerin erst noch beibringen. Seit den tragischen Ereignissen am Dombauplatz verbrachten die junge Frau und der betagte Mönch viel Zeit miteinander und sie kamen sich dabei sehr nahe.
Der alte Mann – für Griseldis längst ein Vaterersatz – war auch der einzige Mensch gewesen, dem sie von
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