Die Heilerin des Kaisers
Strafe an. Anschließend forderte er ihn auf, zu bereuen und den König um Verzeihung zu bitten. Der Verurteilte tat dies ohne Zögern.
Griseldis sah, wie der Jüngling bereitwillig auf der hölzernen Plattform niederkniete und mit beinahe kindlicher Stimme ausrief: »Ich bereue aufrichtig meine Schuld, die mir GOTT, der HERR und mein irdischer Herr, König Heinrich, vergeben mögen.«
Daraufhin wiederholte der Geistliche der Hildesheimer Domschule noch einmal das Urteil, um auszudrücken, dass sich trotz der Reue des Delinquenten am Strafmaß nichts geändert hatte. Er machte das Kreuzzeichen über ihm und wandte sich dann zu Graf Gernot, einen Bruder der Königin, der als Stellvertreter für König Heinrich bei der Hinrichtung anwesend war.
Dieser erhob sich und rief mit über den Domplatz donnernder Stimme: »Henker von Mainz, möget Ihr nun im Namen des lebendigen GOTTES und Eures irdischen Herrn, König Heinrichs, Eures Amtes walten!«
Griseldis fühlte sich sehr unwohl. Ausgesprochenes Missbehagen verursachte ihr nicht nur die Hinrichtung in aller Öffentlichkeit – ganz Mainz schien zugegen zu sein, dazu viele hohe weltliche und geistliche Herren aus dem Reich.
›Mir verdankt der Todgeweihte seine Verurteilung‹, dachte sie schaudernd, ›ich bin es doch gewesen, die sich ihm genähert und ihm den Dolch aus der Hand geschlagen hat, um das Attentat auf Heinrich zu vereiteln. Und als er fliehen wollte, habe ich ihm ein Bein gestellt, so dass er stolperte und die Wachen des Königs ihn fassen konnten.‹
Sie hatte dem König damit das Leben gerettet; dennoch lastete die Tatsache schwer auf ihrer Seele, dass sie damit das Todesurteil über diesen offenbar geistesschwachen Jüngling verhängt hatte.
›Was hätte ich anderes tun sollen?‹, versuchte sie sich zum hundertsten Male vor sich selbst zu rechtfertigen. ›Hätte ich nicht eingegriffen, wäre Heinrich vermutlich tot. Den Täter hätte man dann auf jeden Fall ergriffen und zum Tode verurteilt.‹
Griseldis sah sich um. Ein böiger Wind trieb die Blüten der Lindenbäume über die Mauern des Klostergartens und ließ die Hauben der verheirateten Frauen flattern wie die Flügel von Schwänen. Die Menschen waren aufgeregt und voller Erwartung. Es herrschte eine Stimmung wie vor einem Mysterienspiel auf dem Domplatz. In den schmalen, ungepflasterten Gassen von Mogontiacum, so der Name des ehemaligen römischen Militärlagers Mainz, herrschte dichtes Gedränge. Händler boten laut schreiend ihre Waren feil; in den Baumwipfeln und auf den spitzen Dachgiebeln der Fachwerkhäuser oder Lehmhütten saßen junge Burschen und riefen den Frauen und Mädchen dreiste Scherze zu.
»Bloßes Enthaupten, wie es bei Mord und Mordversuch an Adligen üblich ist, oder Hängen für das einfache Volk reicht dieses Mal nicht aus, um der Schwere des Vergehens gerecht zu werden«, hörte Griseldis einen, seinem Aussehen nach wohlhabenden Mainzer Bürger zu seinen Begleitern sagen. Alle Zuschauer schienen mit dem überaus harten Urteil einverstanden zu sein.
Zuerst würde man den Mann brandmarken und ihm dann die rechte Hand, die den Dolch gezückt hatte, abhacken. Danach sollte er gerädert und anschließend enthauptet werden.
Griseldis graute vor dem blutigen Spektakel. Vater Berchtold, der ihre Gefühle ahnte, drückte beruhigend ihren Arm.
»Der Delinquent hat noch Glück«, raunte er ihr zu. »In England etwa würde man ihn lebend vierteilen. Das bedeutet, er würde durch vier wilde Rösser, an die man ihn mit Armen und Beinen ankettet, zerrissen werden, indem man die Tiere mit Peitschenhieben in alle vier Windrichtungen auseinandertreibt. Hierzulande kennt man diese grausame Art der Hinrichtung nicht.«
Der Verurteilte stand mit einem langen Hemd bekleidet oben auf der Plattform; er war barhäuptig, trug einen Kälberstrick um den Hals und hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Henker, mit rotem Gewand und einer Maske vor dem Gesicht, die nur Augen und Mund sehen ließ, nahm ihm eben die Fesseln ab.
»Meister Balduin geht einem Gewerbe nach, das noch nicht lange und noch nicht in allen Gegenden des Reiches üblich ist«, erklärte der Benediktiner der Heilerin. »Früher oblag es dem Sieger eines Rechtsstreits, seinen unterlegenen Kontrahenten zu züchtigen – und ihn gegebenenfalls auch hinzurichten. Aber in den Städten, wo jedes Handwerk seine eigene Ausbildung genießt, wird auch die Tätigkeit des Nachrichters zu einem Lehrberuf gemacht. Es wäre
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