Die Heilerin - Roman
Schulbücher. »Das habe ich beim Mittagessen für dich rausgeschmuggelt. Tut mir leid, aber mehr ging nicht.«
»Danke.« Ich verschlang das Essen und hoffte, es würde mir das Denken erleichtern. »Was haben die Ältesten mit mir vor?«
»Das haben sie nicht gesagt. Ich wollte es herausfinden, aber ich hatte Angst, sie würden misstrauisch werden, wenn ich zu viele Fragen stelle.«
Ich schluckte den letzten Bissen Brot hinunter. Keine Butter, kein Zimt, trotzdem köstlich. Zu schade, dass sich in dem Brötchen keine Antworten versteckten, so wie in den Glückskeksen, die wir früher immer am Allerheiligentag bekommen hatten. »Tali, du musst vorsichtig sein. Da ist...«
»Ich weiß. Sie dürfen das mit dir nicht herausfinden. Es war dumm von mir zu glauben, es wäre der Gilde egal, dass du nicht normal bist. Sie würden dich einsperren oder nach Baseer schicken, damit der Herzog einen Attentäter aus dir machen kann.«
»Warte.« Mit hochgehobenen Händen gebot ich ihr Einhalt. »Wovon sprichst du?«
»Vom Geschichtsunterricht heute Morgen. Ältester Beit hat sich komisch benommen und seltsame Geschichten erzählt, und dabei hat er sich dauernd über die Schulter umgeschaut, als würde er glauben, jemand könnte hereinkommen. Er hat gesagt, der Herzog hätte Schmerzlöser als Attentäter eingesetzt, und darum wäre es so wichtig, sofort zu melden, wenn man einen sieht. Er hat gesagt, der Herzog hätte eine Möglichkeit gefunden, sie dazu zu bringen, Menschen wehzutun. Ich musste sofort an dich denken.« Ihre Augen glänzten plötzlich. »Denkst du, es gibt noch andere wie dich und das ist der Grund, warum er so dringend Löser sucht, die anders sind? Vielleicht bist du ja nicht die Einzige!«
Leiser, tief tönender Donner hallte zu uns herüber, und eine frische Brise raschelte im Laub. Andere wie ich ? O ihr Heiligen, ich hoffte nicht, aber falls das alles wahr war, dann war der Seidenmann vielleicht hinter uns allen her. »Tali, du hast im Unterricht doch keine Frage gestellt, die sie womöglich auf die Idee bringt, mich zu verdächtigen, oder ? Oder vielleicht irgendetwas gesagt, das andeutet, dass du so jemanden kennst?«
»Nya! Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde.«
Ich kaute an den Überresten meines Daumennagels. Vielleicht kam der Seidenmann aus Baseer und nicht von der Gilde. Es hatte schon immer Gerüchte über Baseeri-Spione in der Stadt gegeben, und die hatten bestimmt einen gewissen Freiraum in Hinblick darauf, was sie ausspionierten. Bei dem Pech, das mich verfolgte, war er in der Nähe gewesen, als die beiden Mündel mich verraten hatten.
Wie groß war die Gefahr, in der ich schwebte ?
»Tali, mir folgt ein Greifer.«
Sie keuchte und blickte sich aufgeregt um. »Hier? Jetzt?«
»Nein, vorhin.« Ich packte ihre Schultern, und die Panik in ihren Augen ließ ein wenig nach. »Er ist verschwunden, als Enzie aufgetaucht ist.«
»Hat er Enzie gesehen?«
»Sie hat ihre Uniform nicht getragen, und er war zu weit weg, um mit anzuhören, was sie gesagt hat. Ich glaube, er weiß nicht, dass ich hierherkommen wollte.« Sicher war ich aber nicht, und ich bezweifelte, dass ich ihn zu sehen bekäme, wenn er von mir nicht gesehen werden wollte. »Pass gut auf, wem du vertraust.«
»Das mache ich, ich verspreche es.« Tränen verschleierten ihre Augen und hinterließen Spuren auf ihren Wangen. »Glaubst du, er hat Vada geholt? Und die anderen auch?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie umarmte mich, drückte ihren Kopf fest zwischen meine Schulter und mein Kinn. »So wie die Greifer, die Mama geholt haben.«
Nein, sie war freiwillig gegangen, um wie Papa in den Kampf zu ziehen, aber gegen Ende des Krieges hatten die Greifer nicht mehr nur unbedeutende Löser geholt. Sie hatten sich Älteste aus der Gilde gegriffen, persönliche Heiler des Adels - kein Schmerzlöser war mehr sicher gewesen.
Der Duft von Geißblatt und Regen lag in der Luft, und ich stellte mir in dem freien Raum über dem Feigenbaum eine blaue Decke vor, mit Schüsseln voll würziger Tomaten und gerösteter Barsche und an den Ecken mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davontrug, und wie Mama ihren Bohnensalat austeilte, während Papa das Brot butterte.
Ein weiterer Krieg. Ein weiterer Bedarf an Schmerzlösern. Was war mit Lösern, die mehr als nur heilen konnten? Sollten sie dieses Mal mich holen, würde ich mich dann als Heilerin an der Front wiederfinden oder irgendwo im Dunkeln, wo ich etwas viel Schlimmeres würde
Weitere Kostenlose Bücher