Die Heilerin - Roman
tun müssen?
Der Sturm trieb die Boote früh zurück in den Hafen. Windgepeitschte Tropfen trafen schmerzhaft auf meine Wangen und durchtränkten meine Kleider. Aber das hielt mich von den Docks und meiner Chance, mein Zimmer zurückzubekommen, auch nicht mehr fern als der seidige Mann, der eine Attentäterin aus mir machen wollte. Traurigerweise hielt der Regen auch sonst niemanden vom Hafen fern. Dutzende von Leuten standen an jedem Entladeplatz Schlange, einige mit Körben in den Armen. Ein paar Kinder klammerten sich an die Beine der Wartenden oder kauerten sich in ihre Arme. Niemand beschwerte sich, wenn Leute mit Kindern bevorzugt genommen wurden, aber der eine oder andere machte schon ein finsteres Gesicht. Wenigstens konnte mich hier kein Greifer holen, ohne dabei aufzufallen. Aber selbst wenn, wäre mehr als fraglich, ob das jemanden interessieren würde.
Die Arbeit war schnell vergeben. Bei Sonnenuntergang war nur noch ein Boot draußen, aber mindestens vierzig Leute rempelten sich gegenseitig an, um die Aufmerksamkeit des Vorarbeiters am zugehörigen Liegeplatz auf sich zu ziehen. Ich hatte den Vorarbeiter einmal getreten, nachdem er mich in den Hintern gezwickt hatte, also ging ich davon, zitternd im Regen, während die letzte Sonnenwärme dahinschwand.
Wo konnte ich hingehen ? Ich holte mir meinen versteckten Korb zurück und setzte mich an eine trockene Stelle im Windschatten des Fähramts, halb verborgen hinter einem Hibiskusstrauch. Auf dem See versperrten die inzwischen leeren Fischerboote die Kanäle, die zu den Docks führten, und zwei Fähren mit noch mehr Leuten, die Arbeit und Unterkunft suchen würden, warteten darauf, dass der Hafenmeister ihnen das Signal zum Anlegen erteilte. Eine war eine überladene Flussfähre aus Verlatta. Die Landesflagge flatterte am Hintersteven. Die andere war eine kleine Seefähre, die Leute vom Hafen zur Kaffeeinsel beförderte. Alle paar Sekunden hallte ein scharfes Krachen über den See, wenn die Wellen die Fähren aneinanderstießen. Das Bedürfnis, den Flüchtlingen ein herzhaftes »Haut ab!« entgegenzubrüllen, verfing sich in meiner Kehle. Schreien würde mich auch ganz bestimmt weiterbringen.
Ein Kreischen zerriss die Luft über dem See, und einen verwirrten Herzschlag lang dachte ich, ich hätte vielleicht tatsächlich geschrien. Ich ließ meinen Korb fallen, und er rollte in den Regen, wurde immer schneller, als er das abfallende Ufer in Richtung See hinunterpurzelte. Donner grollte, als ich von meinem trockenen Plätzchen unter dem Wetterschutz forthastete. Meine Füße glitten im Schlamm aus, und ich fiel auf die Knie, aber ich bekam den Korb noch zu fassen, ehe er ins Wasser fallen konnte.
Erneut klang ein durchdringendes Kreischen auf, wie von einem Schwein, das geschlachtet werden soll. Die kleinere Fähre neigte sich hart nach Steuerbord und krachte mit der Seite an die größere. Gedämpfte Schreie vermischten sich mit dem Prasseln des Regens. Der Wind heulte, und ein neuerliches Krachen hallte herüber.
Ich drückte meinen Korb an die Brust, als ein großes Stück des Decks abbrach und in die peitschenden Wogen stürzte. Kisten folgten. Blitze flammten auf, und ihr Licht fiel auf Leute, die ins Wasser stürzten. Gnade, ihr Heiligen! Ich drehte mich um, suchte mit den Augen die Küste ab, obwohl ich nicht sagen kann, was ich dort zu finden hoffte. Rettungsboote? Rettungsleinen?
Die Menge auf den Docks schob sich vorwärts, aber niemand tat etwas anderes, als zu gaffen und mit den Fingern zu zeigen.
»Tut doch was!«, brüllte ich. Der Wind verschluckte meine Worte, nicht dass mir andernfalls jemand zugehört hätte. Die Fähren zerschunden sich gegenseitig. Passagiere stolperten über die Decks, rutschten auf dem feuchten Holz aus. Wogen und Wind drückten die kleinere Fähre immer weiter unter Wasser. Sie krachte gegen die Mauer, die den Kanal vom See trennte, und prallte zurück. Wellen klatschten gegen die Mauern, die Fähren, die Küste, wurden höher und höher.
Und immer noch taten die Leute nichts.
Ich ließ meinen Korb fallen, rannte zum Fähramt und hämmerte mit der Faust an die Tür.
»Hilfe! Die Leute da draußen brauchen Hilfe!
Niemand antwortete. Waren sie bereits unterwegs, um zu tun, was immer in dieser Situation zu tun war? Sie mussten doch einen Plan haben!
Ich rannte den Deich entlang und zurück zum Ufer, glitt auf dem Gras aus und trampelte das Schilf nieder. Blitze zerrissen den Himmel und umrahmten die
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