Die Heilerin - Roman
mich auf die Beine und machte mich wieder auf den Weg zum Tempel. Ich hatte ihn fast schon erreicht, als eine Hand auf meiner Schulter landete.
Ich schrie auf, drehte mich um, gefasst darauf, einen Soldaten vor mir zu sehen. Oder schlimmer.
Aylin stieß einen kurzen Schrei aus und riss die Hände vor das Gesicht.
»Bei allen Heiligen, Nya! Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich verstecken.«
»Aylin, ich bin so ein schlechter Mensch.« Ich klammerte mich an sie, schluchzte auf ihre so oder so schon feuchten Federn.
»Nein, das bist du nicht. Was ist passiert?« Sie bog den Kopf zurück und zog die Nase kraus. »Hast du gekotzt?«
Ich bedeckte meinen Mund und nickte. »Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich...« Ich konnte es ihr nicht sagen, ohne ihr zu erzählen, dass ich eine Schifterin war. Nicht, ohne sie noch mehr in diese Sache mit hineinzuziehen, als sie ohnehin schon drinsteckte. Ich wusste immer noch nicht, wer Tali in der Gewalt hatte, und ich durfte nicht riskieren, dass Aylin auch entführt wurde. »Ich habe zehn Oppa aus der Almosenbüchse des Tempels gestohlen.«
Ihr besorgtes Stirnrunzeln geriet in Zuckungen. »Du brauchst es mehr als irgendjemand sonst. Du bist kein böser Mensch.«
Doch, das war ich. Monströs böse. Aber Geld und Informationen konnten mir helfen, Tali zu finden, und ich brauchte beides. »Hast du irgendwas rausgefunden?«
»Ein bisschen, aber ich glaube nicht, dass es sehr hilfreich ist.« Sie blickte sich um. »Hier kann uns jeder zuhören. Komm, gehen wir ins Tannifs, dann kannst du uns mit deinem geklauten Reichtum einen Kaffee kaufen, während wir uns unterhalten.«
Das Tannifs war berstend voll. Die Hocker und die Bänke an den Wänden waren meist von Einheimischen und Flüchtlingen besetzt, die gepolsterten Stühle an den größeren Tischen von Baseeris. Aylin schaffte es, uns einen kleinen Tisch ganz hinten neben der Tür zur Küche zu ergattern. Jedesmal, wenn ein Schankmädchen vorüberhuschte, wehte der Geruch von Kaffee und gebratenem Fisch heraus.
»Erzähl mir alles«, sagte ich, die Hände fest um meinen Kaffeebecher gelegt. Gleich hinter mir in der Küche wurde meine erste warme Mahlzeit seit Monaten zubereitet. Das Geld in meinem Beutel machte mir Unbehagen, aber ich konnte Tali nicht finden, wenn ich halb verhungert war. Der gesunde Menschenverstand rettet mehr Leben als Schwerter, wie Großmama zu sagen pflegte. Und Lügner und Diebe sind niemals glücklich. Ich schob diesen letzten Gedanken beiseite.
»Mein Freund sagt, die Ältesten hätten einen Haufen Leute aus den Hauptbehandlungsräumen wegschaffen lassen. In irgendein höheres Stockwerk; er konnte nicht genau sehen, wohin die Treppe führte.« Sie beugte sich über den Tisch. »Nya, er schwört, dass alle, die nach oben getragen wurden, soweit er es sehen konnte, Grün getragen hätten.«
»Das Grün der Lehrlinge?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er war nicht sicher, aber er glaubt schon.«
»Hast du mit einem der Ältesten gesprochen?«
Sie schnaubte verächtlich. »Als würden die mit mir reden! Aber ich habe ein paar Vierlitzer aufgetrieben, die gesagt haben, Tali hätte das Handtuch geworfen, weil die Ausbildung zu schwer sei. Sie haben gesagt, sie sei nach Hause gegangen.«
Furcht raubte mir den Hunger. »Das ist eine Lüge.«
»Ich weiß, aber sie haben es geglaubt, also muss es ihnen jemand erzählt haben, dem sie vertrauen.« Aylin sah sich in dem Kaffeehaus um. »Nya, ich habe den Sohn eines der Stammgäste des Lusthauses nach den Leuten gefragt, die nach oben getragen wurden. Er ist Wachmann bei der Gilde, und er wirkte nicht sonderlich besorgt. Er hat gesagt, der Erhabene persönlich hätte ihm erzählt, sie seien nur erschöpft von den zahlreichen Heilungen nach dem Fährenunglück. Man habe sie weggebracht, damit sie sich erholen könnten.«
Der Erhabene log? Es hätte mich nicht verwundern sollen, aber es überraschte mich doch. Nun ja, er hatte eine Menge zu verbergen. Kein Pynvium, so viele Verletzte, Lehrlinge, die nach oben getragen wurden und nicht mehr herunterkamen. Meine Hände spannten sich noch fester um den Becher. Kaffee schwappte über den Rand.
Heilige Saea, hab Erbarmen. Sie konnten doch nicht ... Nein, das war undenkbar ... aber ...
Was, wenn sie ohne Pynvium heilten? Wenn es noch mehr Verwundungen wie die des kleinen Mädchens gegeben hatte, Leute, die dem Tod so nahe waren, dass der Schmerz regelrecht aus ihnen hervorstürzte, sodass die
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