Die Heilerin - Roman
davonschleicht, um einen Jungen zu treffen. Hoffte ich zumindest.
Drei peinigende Herzschläge lang starrte er mich nur an, dann zeigte sich ein listiges Lächeln in seinem Gesicht. »Damit solltest du vorsichtig sein. Die Mentoren versohlen dir den Hintern, wenn sie dich erwischen.«
»Sie werden mich nicht erwischen.« So die Heiligen wollten.
»Dann beeil dich.« Er trat zur Seite, und ich zwang mich, den Rest des Weges zu Talis Zimmer nicht im Laufschritt zurückzulegen.
Schließlich huschte ich hinein und brach auf ihrem Bett zusammen. Ein heftiges Zittern überkam mich, und ich brauchte gute fünf Minuten, um meinen Mut zurückzugewinnen. Was ziemlich lange war angesichts all der Dinge um mich herum, die mich an Tali erinnerten, aber allein die Vorstellung, dass sie diesen Raum vielleicht nie wieder betreten würde, ängstigte mich mehr als alle Wachleute, denen ich je in die Quere kommen konnte.
Schließlich hatte ich mich wieder etwas gefasst, wenn auch nicht wirklich beruhigt. Ich zog Aylins Kleid aus und Talis weiße Uniform an. Sie war zu kurz und an Taille und Hüften zu eng, aber das grüne Leibchen verbarg diese Makel ausreichend. Ich faltete Aylins Sachen zusammen und versteckte sie in einer Schublade für den Fall, dass irgendjemand den Kopf zur Tür hereinstecken sollte.
Dann ging ich los. Ich bemühte mich, nicht zu schleichen, sondern schlenderte in aller Ruhe zum Behandlungstrakt. Nach einigen sonderbaren Blicken von diversen Ein- und Zweilitzern ging ich ein wenig schneller. Ein Lehrling, der zu spät zur Visite kam, würde kaum schlendern.
Der Hauptkrankensaal sah noch genauso aus, wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte, damals, als ich Mama bei der Visite geholfen hatte. Ich hatte nicht viel getan, nur Handtücher gehalten oder Schüsselchen mit warmem Wasser, um Blut wegzuwaschen, aber ich war mir wichtig vorgekommen. Das war das Leben, das ich eines Tages zu führen gehofft hatte, damals, bevor ich erkennen musste, dass meine Träume hoffnungslos waren. Der Raum sah heute kleiner aus, weil ich größer war. In den vier Ecken des Raums standen säuberlich angeordnete Reihen von Betten mit dünnen Vorhängen dazwischen, die ein wenig Privatsphäre gewährleisteten. Die meisten Leute, die hierherkamen, waren nur leicht verwundet oder erkrankt, oder sie konnten den Preis für eine vollständige Heilbehandlung nicht bezahlen. Für die Reichen und die Schwerverletzten gab es separate Krankenzimmer.
Ich machte kehrt und ging in Richtung dieser Räume. Der Schweiß stand mir im Nacken. Ich war in keinem dieser Zimmer mehr gewesen, seit Papa gestorben war, getötet von einem Soldaten des Herzogs nur wenige Monate vor Kriegsende. Mama hatte versucht, ihn zu retten, aber bis die anderen Soldaten seiner Einheit ihn zur Gilde hatten schaffen können, war es schon zu spät gewesen. Niemand hatte uns je erzählt, wo Mama gestorben war; sie hatten sie einfach in einer Kiste zurückgebracht wie ein unerwünschtes Geschenk. Zu der Zeit hatten die Baseeris bereits die Leitung der Gilde übernommen, um mit ihrer Hilfe die letzten Regungen unserer Rebellion zu ersticken.
Geschlossene Türen säumten einen Korridor, der beinahe ebenso einschüchternd wirkte wie der im Tempel. Am Ende führte eine breite Wendeltreppe nach oben und ins Dunkel. Ich ergriff den kupfernen Handlauf und trat einen Schritt näher an den Ort, an dem ich Tali zu finden hoffte.
»Du da!«
Ich erstarrte. Meine Finger spannten sich um das kalte Metall. Und dann tat ich noch einen Schritt.
»Lehrlingsmädchen! Komm runter. Du wirst im Krankensaal gebraucht.«
Ich drehte mich mit geöffnetem Mund um, aber mir fiel nicht ein einziger glaubwürdiger Grund ein, um mich der Anordnung zu verweigern. Ein kleiner, kahler Mann mit sechs goldenen Litzen auf einer Schulter und zwei silbernen auf der anderen starrte mich an. Ein Meisterheiler.
»Sofort!«, schnaubte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben Verwundete, die behandelt werden müssen.«
Alle Heiligen, steht mit bei! Ich ging zu ihm, und er packte mich am Schlafittchen, nicht allzu hart, aber wie jemand, der es gewohnt war, ungehorsame Lehrlinge herumzuscheuchen. Er führte mich zurück in den großen Krankensaal und blieb zwischen den Bettreihen stehen. Vier Betten waren belegt mit sitzenden oder liegenden Personen, die alle verletzt waren.
»Wie lautet der erste Schritt bei der Untersuchung einer Wunde?« Er sprach mit der Stimme eines Lehrers. Bei
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