Die Heilerin von Lübeck
Wangen. »Wir hatten verschiedentlich Auseinandersetzungen. Aber sie waren, wie gesagt, nicht der Grund meiner Flucht.«
»Vielleicht hat er zufällig erfahren, dass Ihr nach Lübeck gegangen seid, und will mit Euch abrechnen.«
Taleke presste die Hand so fest an ihren Mund, dass ihr die Zähne schmerzten. »Nicht zufällig! Ich habe es ihm selbst geschrieben, aber offengelassen, ob ich die Stadt wieder verlasse.«
»Er ist rachsüchtig, wie ich Euch, glaube ich, schon erzählt habe. Dass er seinen Lehrherrn ins Gefängnis brachte, sollte Euch zu denken geben. Falls Ihr ernsthafte Händel mit ihm auszutragen habt, wird er Euch nicht in Ruhe lassen.«
»Ich weiß nur, dass seine Mutter als ziemlich bösartig gilt.« Taleke hoffte inständig, dass der Schiffer sich vom eigentlichen Kern der Angelegenheit ablenken ließ.
»Nicolaus kommt ganz nach ihr.«
»Woher wisst Ihr das alles jetzt so plötzlich? Hat es damit zu tun, dass Ihr heute Vormittag unvermittelt aufgebrochen seid?«
»Ja«, gab Wittenborch zu. »Mir war eingefallen, wo ich Auskunft über Nicolaus einholen könnte. Ich kenne einen jungen Mann aus Nicolaus’ Kreis, bei dem ich etwas guthabe. Er ist der Meinung, dass ich ihm einmal das Leben gerettet habe, übrigens bei einem Gelage von Nicolaus. Und da ich außerdem immer noch als Nicolaus’ Freund gelte, hat Giovanni mir bereitwillig den neuesten Klatsch aus der Gruppe erzählt.«
»Giovanni. Das ist doch ein sehr seltener Name bei uns, oder?«
»Ja, gewiss. Er hat einen italienischen Vater.«
»Und verträgt kein Saubohnenmus, stimmt’s?«
Wittenborch sperrte den Mund auf und schüttelte belustigt den Kopf. »Da hol mich doch der Henker! Das wisst Ihr?«
»Ja. Sein Halbbruder ist Hermen, den ich behandelt habe. Er darf keine Bohnen essen, weil sie ihm möglicherweise nicht bekommen. Den Ratschlag hat ihm Bertram von Altkerke gegeben, denn diese Unverträglichkeit vererbt sich innerhalb von Familien.«
»Wie sich alles fügt!«
»Da fügt sich noch mehr«, setzte Taleke erbost fort. »Nicolaus hat sich bei seinem Lehrherrn, einem berühmten Chirurgen, mit der Behauptung eingeführt, er habe einem Freund beim Gelage das Leben gerettet. Der Freund war offensichtlich Giovanni.«
»Das wundert mich nicht. Nicolaus schmückt sich skrupellos mit fremden Federn. Eine Frage bleibt trotzdem: Wenn Nicolaus seine Ausbildung in Paris beendet hätte … als Medicus oder Chirurgus, was macht das schon in den Augen der Lübecker? Frau Puttfarcken hätte eine Möglichkeit gefunden, dem städtischen Medicus einen städtischen Chirurgus an die Seite zu stellen. Sie ist allmächtig und ihr Mann ihr gegenüber schwach. Das alles wäre für Nicolaus kein Grund, um die Lehre hinzuwerfen und nach Lübeck zu eilen. Deshalb nochmals meine Frage: Worüber habt Ihr euch derart entzweit, dass Ihr Angst vor ihm habt?«
Seine Schlussfolgerungen waren messerscharf. Er kannte seinen ehemaligen Freund gut. Taleke schluckte mühsam. »Ich habe entdeckt, wozu er mich wirklich nach Paris mitnahm«, flüsterte sie unglücklich und wäre dankbar gewesen, wenn ihr Nicolaus’ Geheimnis nie bekannt geworden wäre. »Als Deckmantel. Ich sollte alle darüber hinwegtäuschen, dass er Männer liebt.«
»Mein Gott!«, stieß Wittenborch aus und erbleichte. »Sodomie!«
»Ja.«
Der Schiffer versank in Nachdenken. »Nun wird mir einiges klar, was mir in unserer Jugend schon auffiel, worüber ich aber nie nachgedacht habe, weil es Sodomie als Vorstellung in unserem Alter gar nicht gab. Ich hätte nicht einmal gewusst, dass sie verboten ist. Das aber hat mit Euch nichts zu tun. Aus Nicolaus’ Sicht ist Euer Wissen wahrlich ein zwingender Grund, Euch Lübeck zu verleiden!«
»Ich hätte es nie erwähnt«, murmelte Taleke.
»Nicolaus kennt Freundschaftsdienste solcher Art nicht. Er rechnet aus, was er von jemandem bekommen kann. Von Euch erwartet er offenbar Ungemach, und das versucht er zu unterbinden, noch bevor es dazu gekommen ist. Sein kleiner Bruder Grube ist genauso, es liegt in der Familie.«
»Ja.« Taleke wunderte sich selbst, dass sie Nicolaus so naiv vertraut hatte.
»Nicolaus ist leider nicht unsere ganze Sorge«, sagte Wittenborch plötzlich. »Das Domkapitel hat sich dieser Hetzjagd gegen Euch angeschlossen. Man will Euch wegen der Blattern des Maleficiums anklagen. Wegen Schadenszaubers also.«
»Wie soll ich diese Anschuldigungen denn entkräften?«, rief Taleke, über der allmählich die Wogen von Hass und
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