Die Heilerin von Lübeck
verstohlener Seitenblick auf Nicolaus, dass sie sich zu früh gefreut hatte. Er führte etwas im Schilde.
Die Blattern, von denen Nicolaus berichtet hatte, waren jetzt in Paris angekommen. Auf den Gassen flüsterte man sich erschrocken zu, dass der Herr Paris wieder einmal hart strafe. Sollten sie jetzt alle für die Sünden der Tempelritter büßen, die doch schon der König abstrafen ließ? Die Frommen fürchteten sich und verkrochen sich in ihren Wohnungen.
Taleke grämte sich. Das erste Opfer, das bekannt wurde, war die Metzgersfrau, die sie entbunden hatte, und das gesund geborene Kind starb gleich hintendrein.
Mit verschränkten Armen blickte Nicolaus auf sie hinunter, ganz der erfahrene Chirurg. »Nun ja. Das geschieht nach dem Willen des Herrn. Das ist das Gleiche wie bei meinem Stallknecht. Der Tod tritt ein, obwohl wir nach bestem Wissen behandeln. Der Herr zeigt uns seine Allmacht und stößt uns immer wieder mit der Nase darauf, dass uns die Demut vor Seinen Werken fehlt.«
Nicolaus hatte ausnahmsweise vielleicht recht. In Paris gab es bis in die höchsten Kreise viel Bosheit und Unrecht, die dem Herrn nicht gefallen konnten. Und Er war so flink mit seinen Strafen, wenn Er sich einmal dazu entschlossen hatte, dass man Ihm allein deswegen Achtung zollen musste. Zum ersten Mal fürchtete sich auch Taleke. Sie begann zu zweifeln, ob Medici und Heilerinnen wirklich befugt waren, dem Herrn in die Hand zu fallen.
»Weißt du, Taleke«, setzte Nicolaus seinen Gedankengang von einigen Abenden zuvor fort, »du hängst zu sklavisch an dem, was irgendwelche Männer über die Krankheiten ihres Landes und ihrer Zeit geschrieben haben. Wir können ihnen natürlich glauben, was sie selber betrifft. Aber wir – in unserer Zeit und in einem anderen Land – leben unter ganz anderen Umständen. Unser Herr im Himmel ist kein verfluchter Götze, es gibt bei uns weder Elefanten noch Kamele, und unsere Haut ist nicht braun. Darum unterscheiden sich auch unsere Krankheiten von denen in deinen Büchern!«
Taleke hörte ihm überrascht zu. Seine Meinung war bedenkenswert. Es war das erste Mal, dass er ernsthaft mit ihr diskutierte, etwas, das sie sich wünschte, seitdem sie in Paris lebten.
Einverstanden war Taleke mit seiner Ansicht jedoch nicht. Gerade formulierte sie eine wohlüberlegte Antwort, als ein Bote von Cateline kam, den sie nicht kannte. Irgendetwas störte sie an dem Mann, was nicht daran lag, dass er heftig schielte. Es war ungewöhnlich, dass Cateline nicht Ote schickte, und Taleke hoffte, dass es sich nicht wieder als eine Falle herausstellte. Trotzdem erwog sie nur einen winzigen Augenblick, Nicolaus um seine Begleitung zu bitten, und verwarf dann die Versuchung.
Sie hüllte sich in ihren Umhang und hastete so schnell zu Catelines Wohnung, dass sie den Boten hinter sich ließ.
»Ote geht es nicht gut«, berichtete Cateline kummervoll. »Ich hoffe, du weißt Rat.«
Taleke betrachtete den Jungen, der gegenwärtig schlief, aber sich herumwarf und wimmerte, als ob er große Angst hätte.
»Er hat seit gestern eine böse Hitze und klagt über Ameisen auf seinem Körper. Kann es der Pips sein, den wir manchmal im Winter haben?«
»Was hast du noch beobachtet?« Bevor Taleke nicht alles erfahren hatte, konnte sie kein Urteil abgeben. Und sie war entschlossen, das zu tun. Sie wusste, was sie gelernt hatte.
»Er ist heiser, deshalb dachte ich an Pips. Der Bauch tut ihm auch weh.«
»Bei einem solchen Krankheitsbeginn wird empfohlen, dem Kranken Blut zu entziehen«, sagte Taleke zögernd. »Ein Junge in Otes Alter müsste geschröpft werden, schreiben die Medici, zur Ader lassen darf man ihn in so jungen Jahren noch nicht.«
»Das genau ist der Grund, weshalb mir kein Bader mehr ins Haus kommt«, fauchte Cateline. »Der hat Ote mit fünf Jahren zur Ader gelassen, und hinterher war er noch blasser als vorher, matt und schlapp wie ein Greis. Ihm hat diese Behandlung nicht gutgetan, da kannst du sagen, was du willst.«
Taleke nickte. »Ich wollte dir nur mitteilen, was die studierten Ärzte empfehlen würden. Meinem eigenen Kind würde ich diesen Entzug von Blut auch nicht zumuten«, erklärte sie entschlossen. »Für Ote schlage ich dir vor, ihm abwechselnd Gerstenwasser und Salbeisud zu geben, mit Honig gesüßt. Lass ihn beides trinken, so oft er wach ist. Wenn das den Schweiß und den Urin aus deinem Jungen treibt, wird es keine schwere Erkrankung werden.« So Gott will, fügte sie in Gedanken
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