Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
schlossen sich die Augen wieder. »Ich weiß es nicht. Und jetzt lass mich allein. Gesegnet sei der Sultan.«
»Denn er ist das Licht meiner Augen und die Freude meines Herzens.«
Feyra verließ den dunklen Raum und durchquerte den strahlend hellen Hof, voller Widerstreben, zu dem zurückzukehren, was sie gleich vorfinden würde. Aber im Gemach der Valide Sultan schien gleichfalls die Sonne aufgegangen zu sein. Kelebek lächelte, die Odalisken gurrten wie eine Schar weißer Tauben, und die Stimmung hatte sich merklich aufgehellt. »Komm und sieh«, forderte Kelebek sie auf.
Feyra zog die Musselinvorhänge des Bettes erneut zur Seite. Nurbanu saß aufrecht gegen ihre Kissen gelehnt da, die hervorgetretenen Adern waren nicht mehr zu sehen, ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen schimmerten rosig. Ihre Augen waren nur von der Schminke umschattet, die sie täglich mit einem Pinsel auftrug, der nicht größer war als die Nadel eines Vergolders. Sie begrüßte Feyra, woraufhin diese von einer Welle der Erleichterung erfasst wurde. Mit einer vertrauten Selbstverständlichkeit, die nur ihr zustand, setzte sie sich neben die Valide Sultan auf das Bett und griff noch einmal nach Nurbanus Handgelenk. Diesmal schlug der Puls kräftig und gleichmäßig, und Feyra ließ ihre Finger höher gleiten, um die Hand ihrer Herrin zu umfassen. Nurbanu lächelte sie an. »Feyra? Was ist denn?«
»Herrin, wie geht es Euch?«
Nurbanu lachte, ein glockenhelles Geräusch echter Heiterkeit. Für gewöhnlich liebte Feyra es, aber heute klang es falsch wie ein Misston beim Zitherspiel. »Mir? Ich habe mich nie besser gefühlt. Bring mir mein Schreibzeug, Feyra. Dann bestell mein Frühstück und sag den Eunuchen, sie sollen meine Barke bereit machen – sollen wir heute nach Pera segeln? Es ist ein herrlicher Tag. Kannst du dich ein paar Stunden von deinen Patienten frei machen?«
Feyra verneigte sich zustimmend, machte sich aber insgeheim Sorgen. Nurbanus Veränderung war so vollständig, dass Feyra fast glaubte, sich die kurze, schreckliche Krankheit nur eingebildet zu haben. Aber Kelebek war auch hier gewesen, ebenso wie die Odalisken. Sie zögerte. »Herrin, als ich vor nicht ganz einer Stunde zu Euch kam, wart Ihr nicht bei Euch. Eure Augen blickten irr, Ihr seid eingeschlafen und wieder hochgeschreckt und habt geschrien.«
Ein verdutzter Ausdruck trat auf Nurbanus rundes, freundliches Gesicht. »Feyra, wovon redest du denn?«
Feyras Angst kehrte zurück, als sie ihre Herrin eindringlich musterte. Die klaren, wie Brillanten funkelnden Augen. Die allzu blühende Farbe der Wangen. Das blonde Haar, das sich jetzt wie ein Glorienschein feucht um das Gesicht ringelte. Die völlig fehlende Erinnerung an den Zwischenfall von vorhin.
Feyra wandte sich ab und sah sich im Raum um. Dann ging sie zu dem Podest zurück. Ihr Blick blieb an den geeisten Früchten hängen, die unschuldig auf dem Intarsientisch standen. Sie winkte die Gedik zu sich. »Kelebek«, zischte sie dem Mädchen scharf zu. »Hat meine Herrin heute Morgen irgendetwas gegessen oder getrunken?«
»Noch nicht. Aber es ist ja noch früh … Sie hat nur ein paar von den Früchten gegessen, die die Dogaressa ihr mitgebracht hat.«
»Hat jemand zuerst davon gekostet?«
Kelebeks Augen waren so rund und grün wie die Trauben. »Wie … nein, Feyra, du warst nicht hier. Aber ich dachte, es wäre schon in Ordnung, sie waren ein Geschenk von der Dogaressa, und sie ist eine Freundin der Herrin – eine schöne Frau.«
Feyra ging mit vor Furcht bleischweren Füßen auf die üppig gefüllte Schale zu. Das Eis darin knackte protestierend, während es schmolz. Wieder wurde ihre Aufmerksamkeit von den Trauben gefesselt. Sie sahen köstlich aus, quollen über den Rand der Silberschale und waren mit glitzernden Tautröpfchen bedeckt. Zum zweiten Mal fand Feyra, dass etwas entschieden zu viel Farbe aufwies.
Sie pflückte eine Traube ab, ritzte sie mit dem Fingernagel auf, ging zum Fenster und hielt die aufgeschlitzte Frucht ins Sonnenlicht. Im jadegrünen Herz der Traube saß dort, wo die Kerne sein sollten, ein schwarzer Klumpen. Sie fischte ihn heraus und legte ihn auf ein weißes Mosaiksteinchen im Fensterbrett. Dann griff sie nach ihrem Medizingürtel, entnahm ihm ein Monokel mit Messingeinfassung und klemmte es sich ins Auge, bevor sie den Klumpen untersuchte und darin herumstocherte. Sowie sie ihn zerrieben hatte, konnte sie eine Anzahl winziger Kerne erkennen, die alle wie ein Sternanis
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