Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Nurbanu innehielt, um Atem zu schöpfen, sagte sie ruhig, wobei sie sich vorkam, als würde sie einen Stein in einen Sturm werfen: »Als Ihr am schlimmsten gelitten habt und nicht wusstet, was Ihr redet, habt Ihr weder nach Eurem Sohn noch nach mir gerufen, sondern nach Cecilia Baffo. Sie ist offensichtlich sehr wichtig für Euch.« Feyra kniete neben dem Bett nieder. »Die Zeit ist knapp, Herrin. Wenn Ihr wollt, dass ich sie finde oder ich ihr eine Botschaft zukommen lassen soll, sagt es mir jetzt.« Sie erhob sich wieder. »Bedenkt nur eins. Ich habe Euch nie belogen. Aber Ihr habt mich angelogen. Ihr wisst, wer Cecilia Baffo ist.« Feyra sprach mit absoluter Bestimmtheit. »Und wenn Ihr bereit seid, es mir anzuvertrauen, findet Ihr mich in der Samahane.«
Sie eilte die Stufen des Podests hinunter, riss die Tür auf und stellte fest, dass die fünf Odalisken zusammengekauert am Schlüsselloch lauschten. »Kümmert euch um eure Herrin«, fuhr sie sie an, verließ den Raum und hastete davon, bis sie Nurbanus ärgerliche Rufe nicht mehr hören konnte.
Feyra schritt durch die stillen Höfe zur Samahane, der Ritualhalle, betrat sie und stieg zum Mezzanin empor, da es Frauen verboten war, an den Riten teilzunehmen. Sie setzte sich hinter einen der kunstvollen Bögen und zog den seidenen Vorhang hinter sich zu. Sie brauchte Zeit und Raum zum Nachdenken.
Sie spähte über die Balustrade nach unten. Die Derwische des Mevlevi-Ordens vollführten einen rituellen Tanz. Neun Ordensmitglieder wirbelten um ihren Priester in der Mitte herum. Die weißen, fliegenden Röcke bauschten sich zu einem perfekten Kreis, die hohen braunen, scheinbar bewegungslosen Hüte bildeten die zentrale Achse, als sie sich drehten. Ihre Füße glitten fast lautlos über den gefliesten Boden der Samahane. Es glich dem leisen Plätschern von Regentropfen.
Feyra verfiel in einen Trancezustand. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher wie die Derwische in der Halle. Sie kannte die Symbolik der Ordenstracht – die weißen Gewänder standen für die Farbe des Todes, die hohen braunen Hüte, die einem verlängerten Fes glichen, versinnbildlichten Grabsteine. Ihre äußere Erscheinung brachte sie dem Leben nach dem Tod näher, der anderen Seite. Weiß für den Tod, dachte sie, und Braun für den Grabstein. Die Derwische waren Boten des Todes. Nurbanu würde bald in ein weißes Leichentuch gehüllt und mit einem Stein am Kopfende in der Krypta begraben werden.
Feyras Beine wurden steif, und ihre auf die steinerne Balustrade gestützten Arme begannen zu schmerzen. Was würde aus ihr werden? Würde sie verfolgt und in den Kerker geworfen werden, weil sie zu spät gekommen war, um die tödlichen Früchte zu kosten, bevor die Valide Sultan sie aß? Weil sie ihre Herrin nicht hatte heilen können? Sollte sie fortlaufen, wie Kelebek? Und was war mit ihrem Vater? Konnte er beim Sultan ein gutes Wort für sie einlegen? Oder sollten sie zusammen fliehen? Würde er sie über das Meer bringen, über das sie sich noch heute Morgen so viele Gedanken gemacht hatte?
Feyra wurde plötzlich von einer lebhaften Erinnerung heimgesucht, so hell und farbüberfrachtet, wie es die Früchte und das Gesicht ihrer Herrin gewesen waren. Klar und deutlich sah sie sich selbst als sechsjähriges Kind vor der Tür des Hauses ihres Vaters, wo sie mit ihren Freunden im Staub spielte. Einer der Jungen hatte einen Kreisel, den er scheinbar eine Ewigkeit lang drehte. Feyra hatte Magie darin gesehen, wie er sich kaum bewegte und von irgendeiner unsichtbaren himmlischen Macht gehalten in der Schwebe gehangen hatte, bis er schließlich zu zittern und dann zu wackeln begann, am Ende in den Staub fiel und zwischen den Füßen der Kinder hindurchschlitterte. Feyra fing ihn ein und drehte ihn ein, zwei Mal, bis sie den Trick heraushatte. Während er sich drehte, ruhte ihr Blick unverwandt auf seiner reglosen Mitte, fasziniert von dem Umstand, dass sich etwas so schnell bewegen konnte, dass es aussah, als stünde es still. Die anderen Kinder begannen sich zu langweilen und trotteten auf der Suche nach einem anderen Spiel davon, doch Feyra blieb, wartete und beobachtete den Kreisel voller Aufregung und einem Gefühl, das an Furcht grenzte.
Jetzt, fünfzehn Jahre später, verstand sie diese Saat der Angst. Sie hatte darauf gewartet, dass der weiße Kreisel umfiel, hatte es sich gewünscht, sich aber gleichzeitig davor gefürchtet und wider besseres Wissen insgeheim gehofft, der Kreisel würde
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