Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
geformt waren. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Gift.
Aber nicht irgendein Gift, sondern eines, das sie erst ein Mal zuvor gesehen hatte. Haji Musa hatte einst einen Mordanschlag auf den Sultan durch ein Geschenk, einen Krug vergifteten Ales, vereitelt. Der Arzt hatte ihr die sternförmigen Sporen gezeigt, die von den Früchten des St.-Bartholomäus-Baums stammten, den man in den Hügeln rund um Damaskus fand. Er hatte ihr eingeschärft, vorsichtig zu sein, denn die Sporen zählten zu den tödlichsten den Menschen bekannten Giften. Sie waren geschmack- und geruchlos, und es gab kein Gegengift. Das Opfer würde die bösen Folgen eine halbe Stunde lang spüren, sich dann erholen, als wäre es wieder gesund. Danach würde sich sein Zustand rapide verschlechtern, während sich die Sporen in den Organen vermehrten, die Leber befielen und die Innereien zu Brei zersetzten.
Feyra war von einem so starken Gift fasziniert und hatte den Falknern des Sultans einen lahmen Zwergfalken abgeschwatzt, um ihn mit einigen der Sporen zu füttern, die er gierig aufgepickt hatte. Sie setzte sich auf den steinernen Fußboden und beobachtete ihn. Eine halbe Stunde lang lag er zappelnd und mit den Flügeln schlagend auf den Steinen und krächzte vor Qual. Feyra betrachtete ihn mit den sachlichen Augen des Arztes, doch dann erholte sich der Vogel auf wundersame Weise wieder. Die nächste Stunde lang wirkte der Falke munter und gesund, sogar sein Fuß schien nicht mehr lahm zu sein. Doch ehe Feyras Beine auf dem harten Boden taub wurden, kippte er wieder um, verfärbte sich schwärzlich, die Augen wurden glasig, und er schnappte nach Luft, bis sie ihn aufhob und ihm den Hals umdrehte. Warm und überraschend leicht lag er mit baumelndem Kopf in ihrer Hand. Einen Moment lang hatte Feyra Reue empfunden – dieser Falke würde sich nie wieder über die Kuppel der Hagia Sophia erheben. Dann hatte sie ihr Herz verhärtet, ihn direkt auf dem Boden mit einem Skalpell aus ihrem Gürtel aufgeschnitten und festgestellt, dass sein Inneres schwarz vor Sporen war. Die Organe und Eingeweide waren zu einem Brei verlaufen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden.
Feyra dachte fieberhaft nach, ging im Geist alle Mittel durch, die sie kannte; alle, die sie in ihrem Gürtel bei sich trug. Nichts würde helfen. Wenn sie da gewesen wäre, o Himmel, wenn sie doch nur da gewesen wäre, als Nurbanu die Trauben gegessen hatte, dann hätte sie vielleicht etwas tun können. Sie besaß eine kleine Phiole mit Talgkügelchen, die sofortiges heftiges Erbrechen und eine Säuberung der Gedärme herbeiführten, wenn man sie kaute. Aber sobald sich die Symptome zeigten, wie hier beim ersten Krankheitsanfall, war es schon zu spät. Außerdem, dachte Feyra grimmig, hätte sie als Nurbanus Kira die Trauben vorgekostet, wenn sie, wie Kelebek so richtig bemerkt hatte, hier gewesen wäre. Dann würde sie jetzt auf ihren eigenen Tod warten.
Feyra überlegte einen Moment lang. Für ihre Herrin kam jede Hilfe zu spät. Jetzt ging es darum, wen sie retten konnte. Die Odalisken waren alle Schönheiten, alle noch Jungfrauen. Sie stellten für den Sultan einen beträchtlichen materiellen Wert dar, ihnen würde nichts geschehen. »Lasst uns alleine. Ihr alle«, zischte sie ihnen zu und verfolgte, wie sie hastig den Raum verließen.
Übrig blieb Kelebek, die unscheinbare, fünfundzwanzigjährige Kelebek. Vor ihrem geistigen Auge sah Feyra einen Sack, der sich mit Wasser vollsog und versank, bis Kelebeks Schreie mit einem letzten Gurgeln verstummten. Sie trat zum Fenster, wo sich die Morgensonnenstrahlen in einem filigranen Goldkästchen auf dem Fensterbrett fingen. Sie nahm ihren Schleier ab, wickelte das Kästchen darin ein, bis kein verräterisches Glitzern mehr zu sehen war, und drückte es dem Mädchen in die Hand. »Kelebek, nimm dieses Kästchen und …«, sie wühlte in der Tasche ihrer Pluderhose, »drei Dirham und setze mit einem Boot nach Pera über. Wo liegt das Haus deines Vaters?«
»In Edirne.«
»Verkauf das Kästchen in Pera, kauf ein Maultier und reite dorthin. Reite bis Edirne, ohne Halt zu machen. Dann lass deinen Vater einen netten Mann aus dem Dorf für dich suchen und heirate ihn. Deine Zeit im Topkapi ist vorbei.«
»Wie meinst du das?«
»Die Valide Sultan wird sterben, und du hast ihr vergiftete Früchte gegeben.«
Kelebek begann zu zittern. »Wie … aber ich habe nicht … ich wusste doch nicht …« Sie schüttelte den Kopf und stöhnte leise,
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