Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
einem permanenten Fletschen von den schwarz verfärbten, abgebrochenen Zähnen zurückgezogen, doch sie verhärtete ihr Herz. »Wann?«
»Der Angriff wird am neunundzwanzigsten Tag des mayis beginnen. Dieser Tag ist für den Sultan wegen der Ereignisse von 1453 von großer Bedeutung.«
Feyra runzelte die Stirn. »1453?«
»Vielleicht erkennst du das Datum in unserer Zeitrechnung. 857.«
Feyra stieß langsam den Atem aus. Alle osmanischen Kinder lernten dieses Datum des größten Triumphs des Ostens über die westliche Welt in der Schule. »Der Fall Konstantinopels«, keuchte sie.
Inzwischen konnte das Wesen nur noch nicken.
Nach dem christlichen Kalender lag dieses unheilvolle Datum noch zwei Wochen entfernt. Sie musste erneut handeln, wenn sie die Stadt vor der Endphase der Großen Bedrängnis retten wollte.
Aber für Takat Turan gab es keine Rettung mehr. Sie flößte ihm mehr Mohnsaft ein, doch er wurde rasch schwächer und schwächer und brachte nicht mehr die Kraft auf, den Trank in seinem lippenlosen Mund zu halten. Sie salbte seinen schuppigen Körper noch einmal mit Öl, aber als das Feuer im Kamin erstarb, starb er mit ihm, als könne der Salamander ohne die stärkenden Flammen nicht überleben.
Feyra nahm eine Schaufel, ging zum Brunnen, wo der Boden weich war, und hob das Grab selbst aus. Sie rollte Takat in seinen eigenen Umhang ein, zerrte ihn darin zum Brunnen und schob ihn in das Loch. Während sie den Leichnam mit Erde bedeckte und der torfige Lehmgeruch den Gestank verbrannten Fleisches überlagerte, rutschte der Ring ihrer Mutter aus ihrem Mieder und baumelte lose an seinem Band.
Sie drehte ihn im grauen Morgenlicht, bis das dritte Pferd zuoberst erschien, und betrachtete die weiße, in das Glas eingravierte Figur.
Ihr war, als ob Augen auf ihr ruhen würden. Der steinerne Löwe auf dem Brunnen beobachtete sie über sein Buch hinweg. Feyra ließ den Ring fallen und sprach zu ihm. »Wusstest du, dass das geschieht?«, fragte sie. »Hast du es vorhergesehen?«
Der Löwe blieb stumm.
»Dann tust du gut daran, dieses Geheimnis ebenfalls für dich zu behalten.«
Und in einer Aufwallung von Zorn stieß sie den Spaten in die Erde, bis er zitternd aufrecht darin stecken blieb, und wandte sich zum Gehen.
Wieder zurück im Haus schenkte sie den öligen Bodendielen keine Beachtung, sondern sammelte die verstreuten Seiten der Bibel auf, bis sie die Offenbarung des Johannes fand, die sie zuvor markiert hatte. »Ich hörte eine der vier Gestalten sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm und sieh! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm wurde eine Krone gegeben, und er zog aus sieghaft und um zu siegen.«
Sie machte Anstalten, die Seiten auf die glimmende Asche zu werfen, besann sich dann aber und schob sie stattdessen in einen Spalt über dem Kaminsims. Dann trat sie zu der Truhe unter dem Fenster. Sie hatte das grüne Kleid zum Schutz vor Motten mit Kampfer bestreut und weggepackt, weil sie gedacht hatte, sie würde es nie wieder tragen. Doch in diesem Punkt hatte sie sich geirrt, wie sie sich schon so oft geirrt hatte, wenn sie dachte, der Fluch der Pferde des Sultans wäre gebannt.
Feyra kleidete sich im Dämmerlicht sorgfältig an, strich das grüne Kleid über den Hüften glatt, wand ihr Haar um ihre Finger und steckte es im venezianischen Stil auf, denn wenn die Sonne aufgegangen war, musste sie nach Venedig, um Palladio zu besuchen.
Es war endlich an der Zeit, beim Dogen vorstellig zu werden.
Teil 5 – Das weiße Pferd
41
Feyra kam rechtzeitig aus der Stadt zurück, um sich von der Familie Trianni zu verabschieden.
Mamma, die Feyras grünes Kleid genäht hatte, und Papa, der im Tezon den Klauen der Pest entrissen worden war, stiegen zuerst ins Boot und küssten voller Dankbarkeit die Hände derer, die sie gerettet hatten. Als Nächste kam Valentina, die jetzt zwei Kinder hatte, den kleinen Annibale und ein Mädchen, das sie auf Feyras Vorschlag hin Cecilia genannt hatte. Sie küsste Feyra direkt oberhalb des Schleiers auf die Wange. »Ich werde dich nie vergessen«, sagte sie, während ihr Mann Annibale dankbar die Hand schüttelte.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dachte Feyra, als sie zusah, wie das Boot der Triannis davonsegelte. Morgen, am Sonntag, wollte Palladio sie zur Einweihung seiner Kirche mitnehmen. Der Doge würde persönlich daran teilnehmen. Niemand konnte wissen, ob der Doge sie anhören und ihr Glauben schenken oder
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