Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
ob er sie in Ketten legen lassen würde. Ihr und Annibale war nur diese eine Nacht sicher.
Sie löste ihren Schleier und drehte sich zu ihm um.
Sie standen sich gegenüber. Hier Feyra, dort Annibale.
Er sah sie halb fragend, halb lächelnd an, als wüsste er genau, was sie wollte, als habe er damit gerechnet. Sie stand so nah bei ihm, dass sie seine Haut fast auf der ihren spüren konnte. Über ihre eigene Kühnheit verwundert, schloss sie ihn in die Arme, und er erhob keine Einwände. Sie hob die Lippen zu seinem Mund und wollte ihn gerade küssen, als sie die Hitze spürte, die sein Gesicht ausstrahlte, eine kranke Hitze, die sie ein Dutzend, hundert Mal auf ihrer Wange gespürt hatte, wenn sie sich über ihre sterbenden Patienten beugte, um festzustellen, ob sie noch atmeten.
Die Hitze, die Annibale verströmte, rührte nicht von Leidenschaft her, sondern von der Pest.
42
Andrea Palladio stand am hinteren Rand der Menge und lauschte der Einweihung von La Chiesa del Santissimo Redentore: seiner Kirche.
Der Gottesdienst war schon im Gange, aber Palladio hatte kaum ein Wort bewusst wahrgenommen.
Ganz vorne drängten sich prunkvoll gekleidete Geistliche und Edelleute in schwerem Samt. Direkt unterhalb des Altars saß der Doge in seinem goldenen Stuhl. Er trug seinen corno -Hut, und man sah ihm jedes seiner einundachtzig Jahre an. Hinter ihm saß der Camerlengo, dessen kurz geschorenes Haar so golden schimmerte wie das eines Erzengels. Vor den beiden stand Bischof Giovanni Trevisano, der Patriarch von Venedig, in seiner scharlachroten Robe. Seine Stimme klang so monoton, dass Palladio sich wunderte, dass sie die Menge nicht in den Schlaf wiegte. Er hatte dem Patriarchen einst in Vicenza ein Haus gebaut. Der Mann war die personifizierte Langeweile.
Es war ein warmer Frühlingstag, und die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Geruch nach menschlichem Schweiß wurde von dem erstickenden süßen Duft des Weihrauchs überdeckt, der in weißen Wolken aus den silbernen Fässern quoll. Palladio stand Schulter an Schulter mit seinen Nachbarn zur Linken und zur Rechten. Sein Ärger wurde nur leicht von dem kleinen Freudenschauer gemildert, den ihm das Wissen darum bescherte, dass weder die korpulente Frau rechts noch der Bursche links von ihm – dem Gestank, der von ihm ausging, nach zu urteilen ein Fischer – ahnten, dass er der Architekt dieses prachtvollen Bauwerks war.
Palladio wandte den Blick von den überfüllten Bänken ab und richtete ihn nach oben. Da ihn der Gottesdienst nicht interessierte, betrachtete er seine Kirche. Sie war wundervoll und sein Stolz so groß, dass ihm buchstäblich das Herz schwoll.
Die Anordnung der Räume und Flächen harmonierte wunderbar mit der Außenfassade. Das Dreiecksschema spiegelte sich in der Abfolge von Kirchenschiff, Prozessionsweg und Altarraum wider. Ihre Abgrenzung voneinander fand sich nicht nur in veränderten Bodenhöhen, sondern auch in verschiedenen Deckentypen wieder, wobei die paarigen, vom Boden zur Decke aufragenden Halbsäulen dem Raum ein einheitliches Aussehen verliehen. Es gab keine Fresken, nur wenige Gemälde und kaum Statuen. Im Gegensatz zu allen anderen venezianischen Kirchen lag die Schönheit hier nicht in der Dekoration, sondern im Gebäude selbst. Es war nicht nur schön, sondern in seiner Geometrie auch genial konstruiert. Palladio hoffte, dass Gott es verstehen würde, auch wenn das gewöhnliche Volk es nicht sah – denn waren nicht das Himmelsgewölbe und alles in der Natur nach geometrischen Linien ausgerichtet? Der goldene Schnitt selbst drückte sich in dem Kräuseln eines Farns, der Spirale einer Schnecke oder der Schale eines schlichten Nautilus aus. Er scharrte leicht mit den Füßen und blickte nach unten.
Da war er. Der Nautilus.
Palladio hatte die Kirche mit rotem und weißem terrazzo -Marmor fliesen lassen, und in einer der Fliesen, die die Steinmetze ihm gebracht hatten, hatte der Architekt einen perfekten Nautilus gefunden. Der oberste Steinmetz hatte ihn gefragt, ob sie die Fliese wegwerfen sollten, als wäre sie beschädigt, aber Palladio bestand darauf, dass das Fossil blieb. Jetzt befand es sich unter seinen Füßen, und die Nautilusfliese war beileibe nicht in irgendeiner Ecke versteckt worden, sondern hatte einen Ehrenplatz im Gang erhalten, wo man sie sehen konnte.
Als ihm diese Aufgabe übertragen worden war, war er sich in Venedig so gefangen vorgekommen wie der Nautilus in seinem Stein. Er hatte vor der
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