Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
stimmte, sowie er auf der verlassenen Insel an Land gegangen war, die Rasenfläche überquert, in das große, leere, scheunenartige Gebäude in der Mitte und in ein unbewohntes Haus nach dem anderen gespäht hatte. Und jetzt war er im letzten Haus die Stufen hochgestiegen und hatte sie gefunden.
Er ließ sich vorsichtig auf sein gesundes Knie sinken und berührte leicht Feyras Wange. Sie drehte sich zu ihm um, als hätte sie ihn erwartet. »Ich konnte ihn nicht retten«, flüsterte sie, wie um die reglose Gestalt nicht zu wecken. Ihre Augen standen voller Tränen, ihr Schleier war durchweicht. »Ich habe alles versucht.«
Palladio dachte an seine Kirche, seine Kuppel und die Menschenmassen am Ufer. »Nicht alles«, widersprach er. »Eines kannst du noch versuchen.«
Er streckte ihr eine Hand hin, und sie erhob sich widerstrebend von dem Bett und drehte sich zu dem Mann um, den sie zurückließ, als wäre er ihre andere Hälfte, von der sie sich nicht trennen konnte. »Komm und sieh.«
Er registrierte, dass sie auf die Worte reagierte, als habe sie sie schon ein Mal gehört. Hoffnung flackerte in ihren Augen auf.
Sie nestelte an ihrem Schleier herum. »Soll ich das grüne Kleid anziehen?«
Er sah sie an – das Kopftuch, die Pluderhose, den Gesichtsschleier. Sie sah unverkennbar osmanisch aus.
»Nein«, erwiderte er. »Bleib nur so, wie du bist.«
44
Feyra blieb stehen und blickte zu der großen Kirche auf. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Palladio hatte sie nicht nach Hause zurückgebracht, er hatte ihre Heimat zu ihr gebracht.
Die unglaubliche Kuppel, die Minarette, die Fassade eines Tempels – sie war wieder daheim in Konstantinopel und doch in Venedig. Eine Kirche, die so aussah, durfte sie ungestraft betreten. Wie in einem Traum gefangen, begann sie die fünfzehn Stufen zu erklimmen und schritt an den Wachposten an der Tür vorbei. Die Wächter trugen das Löwenemblem, genau wie die, die sie vom Dogenpalast verjagt und sie dann in ihrer Arztmaske eingelassen hatten. Wie bei diesem letzten Mal gaben sie ihr den Weg frei, diesmal auf Geheiß des Architekten, der sie begleitete. Im Gegensatz zu damals erkannten beide Männer sie sofort.
Feyra trat zum ersten Mal in ihrem Leben über die Schwelle einer christlichen Kirche.
Im Inneren war es nach dem hellen Sonnenlicht dämmrig. Der Raum wurde von Kerzen erleuchtet, und Weihrauchwolken hingen in der Luft. Reihen neuer weißer Wachskerzen warteten darauf, entzündet zu werden, während andere zum Dank für die Rettung einer Stadt noch immer brannten. Das Kerzenlicht tauchte die Kirche in einen warmen Schein, und Feyra war für diesen freundlichen Empfang dankbar, denn dieser Ort schüchterte sie ein.
Sie ging auf die Mitte des Kreuzgangs zu. Unter ihren Füßen zeigte ein schwarzer Marmorstern den Mittelpunkt der Kuppel an, und sie stellte sich den Brunnen vor, in dem ihr Vater lag. Sie sandte Timurhan in ihrer beider Sprache einen stummen Gruß.
Dann blickte sie auf.
Wieder und wieder drehte sie sich unter der Kuppel um die eigene Achse. Es war eine riesige, perfekte, nicht mit Bildern verzierte, aber wie die Innenseite einer Muschel mit einer perlmuttartigen Substanz überzogene Halbkugel. Sie rief sich alle Moscheen ins Gedächtnis, die sie im Osten besucht hatte, den Harem, Palladios Haus, das Tezon, Annibales Haus; jeden Ort, an dem sie bis jetzt je gestanden hatte.
Sie kniete nieder und faltete die Hände, wie sie es bei den Schwestern gesehen hatte, wenn sie beteten. Dann blickte sie zu dem Altar auf, zu dem Kreuz, das sie einst getragen, dem Kreuz, das sie einst in einen Brunnen geworfen hatte.
»Bitte«, sagte sie in ihrer eigenen Sprache.
Danach verfiel sie für den Fall, dass dieser Gott sie nicht verstand, ins Venezianische. »Rette ihn. Bring ihn mir zurück.« Wenn alle Götter ein Gott waren, würde er ihr dann antworten?
Aber das Kreuz schwieg, und sie kam sich wie eine Närrin vor. Sie erhob sich von ihren schmerzenden Knien. Sie hätte nicht herkommen sollen. Es gab keinen Gott, weder in dieser Kirche noch in irgendeiner anderen. Die Tempel von Sinan und Palladio waren leer und verlassen.
Als sie aufstand, bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Ein Mann kniete mit geschlossenen Augen in einer Nische. Sie erkannte ihn an seinem corno -Hut, den sie auf den Flugblättern gesehen hatte, die in den Straßen Konstantinopels verbrannt wurden, an dem Hut, der auf dem Dukaten prangte, den sie in ihrem Mieder trug.
Sie war vor
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