Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
hielt ihn ihr hin.
Sie winkte ab. »Er gehört Euch.«
»Nein.« Er folgte ihr. »Er gehört dir.« Und er steckte ihn ihr dort im Gang des Kirchenschiffs an den Finger, als wäre eine Trauung vollzogen worden. »Denn du bist eine Venier.«
Sie betrachtete den Reif an ihrem Ringfinger; dort, wo ihn auch ihre Mutter getragen hatte.
»Wo ist denn deine Heimat?«, fragte der Doge sanft.
»Auf Lazzaretto Nuovo.«
»Der Krankenhausinsel?«
»Ja.« Sie stieß die mächtigen Türen zur Außenwelt auf.
»Lebst du mit dem Arzt dort?«, rief der Doge ihr nach.
Feyra blieb stehen. Natürlich. Der Doge hatte Annibale die Insel ja selbst zugesprochen. »Nein«, flüsterte sie. »Ich lebe allein.«
45
Feyra wusste nicht, wie lange sie an Annibales Lager gesessen und seine schwarz verfärbte Hand gehalten hatte.
Bei ihrer Rückkehr von Il Redentore hatte die Sonne hoch am Himmel gestanden. Jetzt war sie tief genug gesunken, um sein lebloses Gesicht zu vergolden wie eine Reliquie.
Sie hatte während dieser Stunden ihr gemeinsames Leben durchlebt, so wie es hätte sein können. Zusammen leben und arbeiten, vielleicht Reisen zu den Lehrkrankenhäusern von London, Bologna und Damaskus unternehmen, vielleicht gemeinsam ein Krankenhaus eröffnen. Während dieser imaginären Jahre hatte sie jedoch nie Überlegungen darüber angestellt, wie wohl ihre Töchter und Söhne ausgesehen hätten. Sie wollte keine Kinder, hatte sich nie welche gewünscht, sie wollte nur Annibale. Sie wollte nur mit ihm zusammen sein, auf eine Weise seine Frau werden, die ihrer beider Glauben zuließ.
Sie zog den Venier-Ring vom Finger, weil sie plötzlich von der Vorstellung besessen war, dass sie verlobt sein sollten, bevor Annibale der Erde übergeben wurde. Es war ein Frauenring, daher musste sie ihn auf seinen kleinen Finger schieben, wo der Kristall auf der schwarzen Haut schimmerte. Schwarze Galle, rotes Blut, helle Galle und fahler Schleim. Alle Säfte waren aus seinem Körper gewichen, jegliche Ausgewogenheit dahin. Der sich drehende Kreisel war zu Boden gefallen.
Selbst dieser Gedanke trieb ihr nicht die Tränen in die Augen. Voller Ingrimm stellte sie fest, dass das fahle Pferd zuoberst auf seinem Finger erschienen war, und dann verstand sie. Jetzt wusste sie, dass das letzte Pferd, das fahle Pferd des Todes, nicht Takats Tod und auch nicht den von Venedig vorhergesagt hatte, sondern Annibales Tod.
Die sinkende Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, und das Licht ließ ihre trockenen Augen feucht werden. Sie erhob sich. Bald würde es dunkel werden, und sie musste den Leichnam waschen und aufbahren. Heute Nacht würde sie bei ihm wachen, und morgen würde sie ihn begraben.
Sie nahm ein Bündel neuer weißer Talgkerzen aus ihrer Truhe und legte sie neben das Bett. Dann ging sie nach unten und auf den Friedhof hinaus, wo sie über die knorrigen Wurzeln stolperte und die Dornenranken an ihren Kleidern zerrten. Sie schritt vorsichtig um die Gräber herum und dachte an die darin ruhenden Skelette.
Die Menschen, die sie nicht hatte retten können.
Bei dem jüngsten Erdhügel, dem Grab von Takat Turan, blieb sie stehen und stampfte mit dem Fuß darauf. Sie erinnerte sich an ihr Versprechen, seine Gebeine nach Hause zu schicken. Sie hatte nicht die Absicht, es zu halten. »Verrotte hier«, spie sie und setzte ihren Weg fort.
Sie zog den Kalkkarren von seinem Platz an der murada weg und rollte ihn zu Annibales Haus. Am Morgen würde sie seinen Leichnam mit dem Kalk bestreuen.
Dann ging sie zum Brunnen, um Wasser zu holen, damit sie Annibale waschen konnte. Der steinerne Löwe beobachtete sie mit seinem wissenden Blick. Sie hatte genug von ihm. »War das dein großes Geheimnis? Gut gemacht, die Prophezeiung hat sich erfüllt.«
Sie ließ den Eimer rasselnd hinab. Als sie ihn wieder hochzog, sah sie im letzten Sonnenlicht etwas auf seinem Grund aufblitzen. Sie griff mit einer nassen Hand nach dem Silberglanz und brachte ein kleines, an einer Nadel befestigtes Zinnkreuz zum Vorschein. Es war das Kreuz, das Corona Cucina ihr gegeben hatte, um ihren Spitzenschal über der Brust zusammenzuhalten; die Brosche, die sie an ihrem ersten Tag auf der Insel in den Brunnen geworfen hatte. Sie schloss die Faust darum. Hunderte, Tausende Eimer Wasser waren letztes Jahr hier geschöpft worden, und doch hatte das Kreuz beschlossen, just an diesem Sonntag zu ihr zurückzukommen.
Feyra öffnete die Hand und betrachtete den Hirtenpropheten an seinem Kreuz.
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