Die Heilerin
dieser Situation völlig hilflos.
Isaak ging nach oben, seine Schritte klangen schwer auf der Stiege.
Margaretha deckte den Tisch und zündete Kerzen an. Dirck kam und brachte das Essen für die Lehrjungen und Gesellen nach nebenan. Oft aßen sie alle zusammen, doch heute wollte die Familie unter sich bleiben.
Das Brot und der Eintopf dufteten aromatisch, aber Margaretha verspürte keinen Hunger. Dirck kam zurück, wusch sich die Hände und setzte sich. Die Haustür wurde geöffnet, seufzend hängte Abraham seine Jacke auf. Er sah durchfroren und erschöpft aus. Margaretha reichte ihm einen Becher mit dampfendem Würzwein.
»Wo ist Vater?«, fragte er leise.
Sie wies mit dem Kopf nach oben, von dort war das leise Murmeln von Isaaks Stimme zu hören.
»Bei Mutter? Wie trägt sie es?«
»Sie hat nicht mit mir gesprochen. Vorhin hielt sie Eva immer noch in den Armen.«
»Grundgütiger, sie leidet sicherlich ganz schrecklich.« Er seufzte wieder. Margaretha trug das Essen auf, gab den Brüdern, nahm sich. Ihr war flau, sie hatte heute noch nicht viel zu sich genommen. Doch als sie den Löffel zum Mund führte, schnürte sich ihre Kehle zu. Sie trank zwei Schlucke, zwangsich dazu, einige Bissen zu essen. Das flaue Gefühl verschwand nicht.
Alle schwiegen, stocherten im Essen herum und horchten nach oben. Schließlich kam Isaak herunter. Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen.
»Wie geht es Mutter?«, fragte Hermann.
Isaak schüttelte nur den Kopf.
»Annemieke und Wilhelm sind wohl zusammen ausgerissen. Die Familie Floh vermutet, dass er zu seinem Onkel will. Der hat bei Anrath einen Hof. Wilhelm hat offenbar Geld mitgehen lassen, deshalb wollen sie ihn verfolgen. Sie fragen, ob wir etwas wegen Annemieke unternehmen wollen.«
Isaak rieb sich über die Stirn. »Er hat gestohlen?«
Abraham nickte. »Vielleicht hat Annemieke ja auch etwas mitgehen lassen?«
»Geld bewahre ich nicht hier unten auf, davon kann sie nichts genommen haben. Aber vielleicht von den Vorräten?«
Margaretha stand auf und ging in die Vorratskammer. Dort schien nichts zu fehlen. Aber aus der Kühlkammer im Hof war ein Schinken verschwunden, stellte sie fest.
»Das ist ärgerlich«, sagte Isaak. »Vor allem, weil der Winter hart werden wird. Andererseits sollten wir genügend Vorräte haben. Ich werde nicht gegen sie vorgehen. Wenn sie irgendwo eine Anstellung und Bleibe findet, dann soll sie in Gottes Namen dort glücklich werden. Sollte sie in Not geraten, werden wir sie natürlich wieder aufnehmen. Ich denke, sie hatte Angst vor einer Strafe, das arme Kind.«
»Das arme Kind?« Hermann schob empört seinen Stuhl zurück. »Sie ist für Evas Tod verantwortlich.«
Isaak stand auf, holte Branntwein und Pfeifen, nahm den Tabakbeutel hervor. »Margret, du kannst abräumen. Keiner von uns scheint großen Appetit zu verspüren.« Dann stopfte er sich umständlich die Pfeife, reichte seinen Söhnen den Tabakbeutel. »Verantwortung, das ist ein großes Wort, mein Sohn. Es wiegt schwer. Verantwortung für den Tod, das birgt auchSchuld in sich. Hat Annemieke Schuld? Der Gedanke quält mich schon den ganzen Tag. Zu einem endgültigen Ergebnis bin ich noch nicht gekommen.«
»Natürlich trägt sie Schuld. Sie hat sich mit Wilhelm getroffen, heimlich. Und darüber hat sie keine Obacht auf Eva gegeben. Abgesehen davon, dass sie sich nicht mit einem Mann treffen durfte, hat sie sich schuldig gemacht, weil sie nicht auf das Kind aufgepasst hat«, ereiferte Hermann sich.
»Das mag so stimmen, aber sie hat es nicht in böser Absicht und vorsätzlich getan. Auf Evale aufzupassen ist nicht immer …« Er hielt inne. »Nein, war nicht immer leicht. Das weißt du genau wie ich. Sie war ein Träumerle.« Isaak schluckte.
Margaretha stiegen wieder die Tränen in die Augen. Von Eva in der Vergangenheit zu sprechen, machte ihren Tod endgültig.
»Ja, Vater, sie war ein Träumerle, und umso mehr Obacht musste man ihr angedeihen lassen.«
»Was nicht immer einfach war, Hermann«, sagte Margaretha gepresst. »So manches Mal ist sie mir auch entwischt. Ob im Garten, Markt oder hier im Haus. Annemieke war verzweifelt gestern, sie fühlt sich sicherlich schuldig.«
»Zu Recht, zu Recht. Aber so schuldig hat sie sich dann nicht gefühlt, dass sie uns nicht auch noch einen Schinken entwenden konnte.« Hermann schlug vor Wut mit der Hand auf den Tisch.
»Die Verantwortung für Evas Tod haben jedoch andere. Und …« Wieder stockte Isaak, kaute
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