Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
für seinen Sohn angehalten. Und sie hatte noch nicht abgelehnt – trotz ihres Gelübdes. Ludolf sollte ruhig spüren, dass er nicht der Einzige war, der sich für sie interessierte, dass er sich nicht alles erlauben konnte.
Schweigend waren sie auf dem Kirchplatz angekommen und standen nun vor St. Nikolai, einem dreischiffigen Gebäude aus dem für die Gegend üblichen rötlichen Sandstein. Aber in den vielen Jahrzehnten seit der Errichtung hatte das Mauerwerk eine dunkle Patina angenommen.
»Der Priester scheint Maria gut zu kennen«, erklärte Agnes. »Wie die Nachbarin sagte, war er am Tag des Überfalls noch bei ihr.«
Ludolf nickte zustimmend.
»Im Kloster nimmt er die Beichte ab. Er ist jeden Vormittag da und spricht mit Nonnen, die geistliche Hilfe brauchen. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner. Sehr liebenswürdig und höflich, klug und belesen. Bei einigen Nonnen, die er schon länger kennt, ist er sehr freundschaftlich, fast wie ein Vater oder ein großer Bruder.«
»Was weißt du noch von ihm?«
»Seine Predigten sind oft düster und drohend. Er spricht von Hölle und Verdammnis für alle Sünder. Einige Nonnen und Novizinnen bekommen immer Angst vor ihm, wenn er mit drohendem Finger auf sie zeigt.«
Die beiden betraten die Kirche. Agnes bekreuzigte sich und machte einen Knicks in Richtung des Altars. Als Ludolf nicht reagierte, stupste sie ihn an. Aber er schaute sie nur groß an. Sie hatte ganz vergessen, dass es ihm schon immer an Respekt gegenüber Geistlichen und Bildnissen gemangelt hatte. Pater Arnold Bassenberg fanden sie in einer kleinen Seitenkapelle beim Auswechseln einiger abgebrannter Kerzen. Höflich begrüßten sich die drei.
»Habt ihr schon etwas gefunden, werte Schwester?«, fragte der Priester Agnes. Er hatte eine angenehme, sanfte Stimme.
»Maria hat noch nichts gesagt. Sie steht noch immer unter Schock. Und sonst sind wir erst am Anfang unserer Suche. Bisher haben wir noch niemanden gefunden, der etwas zur Aufklärung beitragen kann.«
»Hat denn niemand etwas gesehen oder gehört, was passiert ist?«
Agnes musste dies verneinen.
Der Pater nahm die Kerzenstummel und ging in Richtung Altar. Die beiden jungen Leute folgten ihm. Nachdem Bassenberg die Wachsreste auf eine Bank gelegt hatte, war er wieder ganz Ohr.
Ludolf begann: »Könnt ihr uns ein wenig mehr über Maria erzählen? Vielleicht hilft uns das zu verstehen, was ihr passierte.«
Der Pater lächelte sehr freundlich: »Was kann ich schon wissen? Ich bin doch nur ein einfacher Diener Gottes. Außerdem – das sollte euch doch klar sein – alles, was im Rahmen der Beichte gesagt wurde, ist tabu.«
»Selbstverständlich. Aber wir sind uns sicher, dass ihr uns helfen wollt. Es gibt doch bestimmt Dinge, die vom Beichtgeheimnis nicht betroffen sind.«
Der Priester lächelte die beiden jungen Leute an und nickte. »Natürlich helfe ich. Gerne. So weit es mein bescheidenes Wissen zulässt. Was möchtet ihr wissen?«
»Fangt doch einfach an«, schlug Agnes vor. »Bei wichtigen Punkten werden wir schon nachfragen.«
»Gut, gut.« Er strich sich durch sein glatt rasiertes Gesicht und dachte einen kurzen Augenblick nach. Sein Lächeln war verschwunden, als er zu erzählen begann. »Maria ist eine wahrhaftige Heilige. Sie erhält vom Allmächtigen Visionen vom Untergang der Welt. Sie sieht Krieg, Feuer, Vernichtung und Tod, als würde sie direkt aus der Apokalypse zitieren. Und dazu kommen dann die Tränen des Herrn, die während der Visionen auf der Christusstatue erscheinen.«
»Habt ihr sie schon gesehen?«, fragte Ludolf.
»Aber sicher!«, beteuerte Arnold Bassenberg. Stolz richtete er sich auf. »Ich sah die Tränen auf dem Angesicht erscheinen, so wie viele andere Gläubige auch. Schon Dutzende haben diese Offenbarungen Gottes gesehen!«
»Passiert auch etwas im Anschluss an diese Offenbarungen?«
»Wie meint ihr das?«
Ludolf atmete hörbar aus. »Nun, ja. Haben sich die Prophezeiungen auch erfüllt?«
Der Priester nickte. »Natürlich. Wir sehen die Erfüllung zwar nicht jedes Mal, aber ein prägnantes Beispiel gibt es. Nach der Karfreitagsprozession vor zwei Jahren hatte Maria wieder eine heftige göttliche Eingebung. Und am nächsten Tag klagten die Ersten über eine Krankheit bei ihren Rindern, Schweinen und Schafen. Fast alle Tiere hier in Rinteln krepierten an der Seuche.«
Der junge Mann hatte von dem Unglück gehört. »Und wann bekommt sie Visionen? Bei jedem Besuch?«
»Oh nein!« Er hob
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