Die Heiratsschwindlerin
ursprünglichen, überwältigenden Wunsches nach Leben.
Rupert saß in der National Portrait Gallery auf einer Bank und starrte ein Gemälde Philipps II . von Spanien an. Es war gute zwei Stunden her, dass Martin sich verabschiedet, Ruperts Hand umschlossen und ihn ermahnt hatte, anzurufen, wann immer ihm danach war. Seitdem war Rupert ziellos herumgeirrt, völlig in seine Gedanken vertieft, ohne die Scharen von Einkaufsbummlern und Touristen zu registrieren, mit denen er immer wieder zusammenstieß. Von Zeit zu Zeit versuchte er, Milly anzurufen. Aber jedes Mal war besetzt, doch er war insgeheim erleichtert. Er wollte Allans Tod mit niemandem teilen. Noch nicht.
Der Brief steckte immer noch ungeöffnet in seiner Aktentasche. Er hatte noch nicht gewagt, ihn aufzumachen. Seine Angst war einfach zu groß – sowohl davor, dass er seinen Erwartungen nicht entsprach, als auch davor, dass er es tat. Doch nun, unter Philipps strengem, kompromisslosem Blick griff Rupert zu seiner Tasche, fummelte an den Verschlüssen herum und zog den Brief hervor. Wieder verspürte er einen schmerzvollen Stich, als er seinen Namen in Allans Handschrift sah. Das war die letzte Kommunikation, die je zwischen ihnen stattfinden würde. Ein Teil von ihm wollte den Brief ungeöffnet begraben, Allans letzte Worte ungelesen und unbefleckt lassen. Aber noch während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, riss er schon mit zitternden Händen an dem Papier, und er zog dicke, cremefarbene Briefbögen heraus, jeder einseitig mit einer schwarzen, gleichmäßigen Schrift bedeckt.
Lieber Rupert,
Fürchtet euch nicht! Fürchtet euch nicht, sagte der Engel. Ich möchte Dir mit diesem Brief kein schlechtes Gewissen machen. Zumindest nicht bewusst. Nicht viel.
Eigentlich weiß ich nicht mal genau, warum ich überhaupt schreibe. Wirst Du diesen Brief je lesen? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hast Du schon vergessen, wer ich bin; wahrscheinlich bist Du glücklich verheiratet und hast Drillinge. Gelegentlich gebe ich mich der Vorstellung hin, Du stündest plötzlich in der Tür und nähmst mich in die Arme, und die anderen todgeweihten Patienten würden jubeln und mit ihren Stöcken auf den Boden trommeln. In Wirklichkeit wird dieser Brief, wie so viele andere einst bedeutsame Ereignisse dieser Welt, in einem Müllwagen landen, um zu irgendjemandes Frühstück recycelt zu werden. Der Gedanke gefällt mir. Allanflakes. Mit einer extra Portion Optimismus und einer Spur Bitterkeit.
Und doch schreibe ich weiter – als wäre ich mir sicher, dass Du eines Tages den Weg zu mir zurückzufinden versuchst und diese Worte liest. Mag sein, mag auch nicht sein. Habe ich in meiner Verwirrung etwas falsch verstanden? Messe ich dem, was zwischen uns war, eine Bedeutung zu, die es gar nicht verdient? Die Ausmaße meines Lebens sind so drastisch verringert worden, ich weiß, dass mein Blickwinkel sich etwas verschoben hat. Und doch – auch wenn alles dagegen spricht – schreibe ich weiter. Die Wahrheit ist, Rupert, ich kann dieses Land, geschweige denn diese Welt, nicht verlassen, ohne Dir irgendwo einen Abschiedsgruß zu hinterlassen.
Wenn ich meine Augen schließe und an Dich denke, dann so, wie Du in Oxford warst – obgleich Du Dich seitdem verändert haben musst. Fünf Jahre später, wer und was ist Rupert? Ich habe da so meine eigenen Vorstellungen, bin aber nicht willens, sie zu enthüllen. Ich möchte nicht das Arschloch sein, das meint, Dich besser zu kennen als Du Dich selbst. Das war mein Fehler in Oxford. Ich habe Zorn mit Einsicht verwechselt. Ich habe meine eigenen Sehnsüchte für Deine gehalten. Welches Recht habe ich, einen Groll gegen Dich zu hegen? Das Leben verläuft in wesentlich komplizierteren Bahnen, als beiden von uns damals klar war.
Ich hoffe, Du bist glücklich. Allerdings befürchte ich, dass Du es, falls Du diesen Brief liest, sehr wahrscheinlich nicht bist. Glückliche Menschen suchen nicht nach Antworten in der Vergangenheit. Wie lautet die Antwort? Ich weiß es nicht. Vielleicht wären wir miteinander glücklich geworden, wenn wir zusammengeblieben wären. Vielleicht wäre das Leben schön gewesen. Aber gesagt ist das nicht.
Wie es aussieht, hätte das, was zwischen uns war, nicht mehr besser werden können. Und so trennten wir uns. Doch zumindest hatte einer von uns dabei die Wahl, auch wenn ich nicht derjenige war. Sich trennen ist eine Sache, sterben eine andere. Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, ob ich mit beidem
Weitere Kostenlose Bücher