Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
länger an der Nase herumführen, nicht auf meinem eigenen Grund und Boden! Wir brechen den Boden auf! Holt Spitzhacken, sofort!«
Simon und Magdalena folgten Benedikta die steile Wendeltreppe hinunter in die Dunkelheit. Schon bei der nächsten Biegung wusste der Medicus, dass Magdalena recht gehabt hatte. Er langte mit dem Finger kurz an die Spitze einer Fackel und spürte, dass sie noch heiß war. Jemand musste sie erst vor kurzem gelöscht haben.
Die Öffnung über ihnen war nur noch ein fahler Lichtschein, der nach der nächsten Kurve gänzlich verschwunden war. Benedikta blieb stehen, holte ein Zunderkästchen hervor ,und schon bald zeigte ein Flackern vor ihnen an, dass die Händlerin eines der mitgebrachten Bücher in Brand gesteckt hatte. Simon spürte einen Stich in der Herzgegend; er wollte nicht wissen, welches Buch gerade eben den Feuertod starb. Aristoteles? Thomas von Aquin? Descartes? Unsicher blickte er auf Augustinus’ Confessiones in seiner Hand. Noch war er nicht so weit, das brillante Werk anzuzünden.
Mit dem brennenden Buch wies ihnen Benedikta die Richtung. Am Fuß der Treppe führte der Gang zurück zu der Kreuzung, wo Magdalena nicht einmal eine Stunde zuvor den Weg nach draußen gesucht hatte.
»Wohin?«, flüsterte die Händlerin.
Magdalena sah sich um. »Die Kapelle, in der ich eingesperrt war, ist links. Geradeaus geht es in die Krypta der Welfen, aber dort führt kein Weg hinaus. Lasst uns also nach rechts gehen.«
Auch die Henkerstochter hatte mittlerweile ein Buch entzündet und trat neben Benedikta in den engen Gang, der noch ein wenig schmaler war als die vorherigen. Kurz hatte Simon die Vision, im Schein der Flammen zwei Schwestern vor sich zu sehen. Die eine älter, mit zum Dutt hochgesteckten roten Haaren und einem mit Pelz verstärkten, feingewebten Mantel; die andere zottig, schwarzhaarig, im von der langen Gefangenschaft zerfetzten Kleid und mit dem zornigen Blick der Jugend. Beide zeigten die gleiche Entschlossenheit.
Magdalena schien mittlerweile ihre alte Selbstsicherheit wiedergefunden zu haben. Misstrauisch sah sie die Händlerin von der Seite an.
»In dem schweren Mantel bist du gerade mal so schnell wie ein fetter Bär im Winterschlaf«, flüsterte sie. »Am besten, du lässt mich vorangehen. Ich bin jünger und flinker.«
» Petite garce ! «, zischte Benedikta. »Ich glaube kaum, dass du uns retten kannst, wenn wir plötzlich angegriffen werden. Du vergisst, dass ich unsere einzige Waffe habe.« Sie holte die Pistole hervor und trat einen Schritt voraus.
Die Henkerstochter sah spöttisch auf die kleine Handfeuerwaffe. »Ein Weiberfurz, mehr nicht. Damit schießt du nicht einmal ein Huhn vom Misthaufen. Solltest mal die Waffen sehen, die mein Vater aus dem Krieg mitgebracht hat.«
»Aber dein Vater ist leider nicht hier, um sein geliebtes Töchterlein zu beschützen!«
Simon hob beschwörend die Hände. »Meine Damen, ich bitte euch! Lasst uns erst einmal hier rauskommen. Dann könnt ihr euch immer noch die Köpfe einschlagen.«
Benedikta warf einen abschätzigen Blick nach hinten, wo der Medicus stand. »Ihr habt ausnahmsweise recht, wir haben schon genug Zeit verschwendet.« Dann setzte sie sich schweigend an die Spitze der kleinen Gruppe.
Magdalena und Simon folgten ihr den schmalen Gang entlang. Erloschene Fackeln in rostigen Haltern hingen in regelmäßigen Abständen an der Wand, in einer Ecke stand ein rußiger, leerer Pecheimer, der wohl zur Herstellung weiterer Fackeln gedient hatte. Immer wieder tauchten links und rechts Nischen und kleinere Gänge auf, doch sie hielten sich an den Hauptgang. Plötzlich prallte Magdalena gegen Benedikta, als diese an einer Abzweigung abrupt stehen blieb. Zwei gleich große Gänge führten von hier weg.
»Und wohin jetzt, Madame Siebengscheit?«, flüsterte die Henkerstochter.
Benedikta hielt ihr zur Hälfte abgebranntes Buch in die Höhe. Ein dünner Rauchfaden zog an ihrem Gesicht vorbei, die Flamme neigte sich nach links.
»Der Gang rechts scheint ins Freie zu führen«, sagte sie. »Wenigstens kommt von dort ein Luftzug. Wir sollten also …«
In diesem Moment ertönte wieder das Schlurfen und Keuchen. Es war jetzt ganz nah. Aus irgendeiner der Nischen in der Nähe klang es zu ihnen herüber. Oder war es doch weiter entfernt? Ein Prasseln kleiner Steine folgte. Dann herrschte wieder Ruhe.
Benedikta zielte mit ihrer Pistole in die Dunkelheit.
»Wer oder was du auch immer bist, komm raus!«, rief sie.
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