Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
Tagen, überleg ich’s mir noch und fahr mit.«
Simon konnte sein Glück kaum fassen. Mehrere Wochen würde er mit Magdalena zusammen sein können, weit weg von dem Ort, an dem sie als Henkerstochter gebrandmarkt war! Keiner würde sie kennen!
»Kuisl, wie kann ich Euch danken ... ? «, flüsterte er. »Dankt nicht mir. Dankt dem da oben.« Der Henker sah zum Großen Gott von Altenstadt hinauf. »Er hat mich überredet. Jetzt hab ich ihm schon zwei Gefallen getan.« »Zwei Gefallen ...?«, fragte Simon irritiert.
Jakob Kuisl saugte an seiner kalten Pfeife, als wäre er zu Hause und nicht in der Kirche. »Das Lärchenholz in seinem Rücken war morsch und faul«, begann er. »Der Zimmermann Balthasar Hemerle hat den Heiland vorgestern für Mariä Lichtmess wieder herrichten sollen. Und es hat ihm ein Stück gutes Holz gefehlt. Altes, festes Holz, das schon über 1 600 Jahre auf dem Buckel hat … «Langsam dämmerte in Simon eine Erkenntnis.
»Das Kreuz Christi aus Steingaden ... «, begann er.
Der Henker klopfte die Pfeife auf der Kirchenbank aus. »Ich hab ein kleines Stück aus dem Feuer retten können. Als Erinnerung meinethalben. Es hat genau in den Rücken vom Heiland gepasst.«
Simon blickte hinauf zum Großen Gott von Altenstadt . Plötzlich hatte er das Gefühl, im Gesicht des holzgeschnitzten Jesus ein Schmunzeln zu sehen.
Aber das war natürlich eine Täuschung.
Ein paar Worte zum Schluss
Vor einiger Zeit war ich in Hohenschäftlarn, um meine mittlerweile 85-jährige Großmutter zu besuchen. Sie lebt dort in einem ehemaligen Bauernhaus mit über zwanzig Zimmern, voll mit alten Möbeln, Gemälden und allerlei Krimskrams, den sie in den letzten Jahrzehnten auf bayerischen Flohmärkten zusammengetragen hat. Zu dem Anwesen gehören ein verwunschener Garten, ein tiefer, dunkler Keller und ein zugiger Speicher, wo ich früher gemeinsam mit meinem Cousin unter dicken Daunendecken schlief. Jedes Zimmer, jedes Ding in diesem Haus erzählt eine eigene Geschichte.
In der großen Küche, in der ich als Kind unter dem Tisch immer Comics gelesen habe, saßen meine Großmutter und ich, und sie erzählte mir den ganzen Abend lang von unseren Vorfahren, den Kuisls: von meinem sturschädligen Ururgroßvater Max Kuisl, der mit seiner ganzen Familie in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach Brasilien ausgewandert ist, von meinem Urgroßonkel Eduard, der Märchen schrieb und dem ich so ähnlich sein soll, von meiner Urgroßtante Lina, die an der Münchner Kunstakademie studiert hat und sich dann Hals über Kopf in einen französischen Maler verliebte, von all den vielen Ahnen, die ich nur von verblichenen Fotos und Gemälden her kenne. Meine Großmutter erzählte und erzählte, bis mir schwindlig war vor lauter Menschen, Geschichten und Anekdoten.
Seit meinem ersten Buch Die Henkerstochter ist meine Familie auf seltsame Weise ins schier Unendliche gewachsen. Immer wieder erhalte ich Anrufe oder Briefe von Menschen, die auch zur großen Sippe der Kuisls gehören. Sie wollen von einem entfernten Urgroßonkel wissen oder von einer verschollenen Tante, sie gehen mit mir die Ahnenreihe zurück, viele Jahrhunderte lang, und irgendwann stoßen wir dann auf unseren gemeinsamen Urahn, den Henker Jakob Kuisl.
Was für ein Mensch dieser Jakob Kuisl genau war, werden wir niemals erfahren. Alles, was ich von ihm mit Sicherheit weiß, ist, dass er im 17. Jahrhundert in Schongau als Scharfrichter tätig war, einer der ersten in einer langen Reihe von Kuisl-Henkern in Bayern. Insgesamt habe ich bislang vierzehn Scharfrichter in unserer Familie gezählt.
In den Schongauer Stadtarchiven ist über diesen Jakob Kuisl nur wenig vermerkt. Es wird berichtet, dass er einmal einen Wolf erlegt hat; in den Akten findet sich außerdem eine Tochter mit Namen Magdalena, auch Kuisls Frau Anna Maria und die Zwillinge Georg und Barbara sind dort notiert. (Es gab noch zwei weitere Kinder, die ich aber aus dramaturgischen Gründen weggelassen habe.)
Stattliche 8 2 Jahre ist Jakob Kuisl alt geworden; erst im Alter von 36 Jahren hat er die Schongauer Scharfrichterstelle übernommen, die vorher schon sein Vater und Großvater innehatten. Was er davor gemacht hat, ist unbekannt. Gut möglich also, dass sich mein Urahn als Söldner durch die Wirren des grausamsten aller deutschen Kriege schlug. Seine Frau starb nur zwei Monate nach ihm. Ich stelle mir vor, dass sie eine lange und glückliche Ehe führten. Aber hier beginnt die
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