Die Henkerstochter
Simon wurde heiß, er spürte, dass er nahe am Ziel war. Die Schongauer Kirche hatte in jüngster Zeit eine Vielzahl von Schenkungen erhalten, vor allem für den Bau des neuen Friedhofs von St. Sebastian. Jeder, der sein Ende nahen fühlte und sich einen ewigen Platz direkt an der Stadtmauer sichern wollte, vermachte der Kirche zurzeit zumindest einen Teil seines Vermögens. Außerdem gab es Schenkungen über wertvolle Kruzifixe, Heiligenbilder, über Schweine und Rinder, auch über Grundstücke. Simon blätterte weiter. Schließlich war er am Grund der Schublade angelangt. Kein Vertrag über das Grundstück an der Hohenfurcher Steige …
Simon fluchte. Er wusste, dass hier irgendwo die Lösung des Geheimnisses sein musste. Er spürte es förmlich! Wütend ging er mit der Schublade wieder zurück zum Schrank, um sie zurückzuschieben und eine neue zu holen. Beim Aufstehen streifte er die Blätter, die schon vorher auf dem Tisch gelegen hatten. Sie segelten zu Boden.Hastig hob Simon sie auf. Plötzlich hielt er inne. Ein Dokument in seiner Hand war an der Seite zerfetzt, als hätte jemand hastig einen Teil abgerissen. Das Siegel war in aller Eile gebrochen worden. Er warf einen Blick darauf.
Donatio civis Ferdinand Schreevogl ad ecclesiam urbis Anno Domini MD CLVIII …
Simon zuckte zusammen. Die Schenkungsurkunde! Allerdings nur die vorderste Seite, der Rest war fein säuberlich abgetrennt. Er überflog die Akten auf dem Tisch und sah auf dem Fußboden nach. Nichts. Jemand hatte die Urkunde aus dem Schrank genommen, sie gelesen und den für ihn wichtigen Teil, vermutlich eine Skizze des Grundstücks, mitgenommen. Allerdings schien er nicht viel Zeit gehabt zu haben, jedenfalls nicht ausreichend, um die Urkunde wieder in die Schublade zurückzustecken. Der Dieb hatte das Papier nur schnell unter den Stapel mit den anderen Dokumenten auf dem Tisch geschoben …
… und war zurück zur Ratssitzung gegangen.
Simon schauderte. Wenn jemand dieses Dokument gestohlen hatte, dann konnte es nur jemand sein, der von dem Schlüssel hinter der Kachel wusste. Also Johann Lechner selbst ... oder einer der vier Bürgermeister.
Simon musste schlucken. Er merkte, wie seine Hand, die immer noch das Dokument hielt, leicht zitterte. Was hatte der Patrizier Jakob Schreevogl vorher zu ihm über die Sitzung gesagt?
Bürgermeister Semer bestreitet, dass die Söldner sich mit jemanden oben in seinen Kammern getroffen haben.
Sollte der Erste Bürgermeister selbst in die Sache mit den Kindern verwickelt sein? Simons Herz schlug schneller. Ihm fiel ein, wie ihn Semer vor ein paar Tagen in seinem eigenen Wirtshaus ausgehorcht und ihm schließlichabgeraten hatte, sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen. Und war es nicht auch Semer gewesen, der sich immer gegen den Bau des Siechenhauses ausgesprochen hatte, aus, wie er sagte, rein städtischen Erwägungen? Weil sich eben Leprakranke nicht gut vor den Toren einer Handelsstadt machten? Was aber wäre, wenn Semer die Bauarbeiten nur deshalb verzögern wollte, weil er auf dem Grundstück einen Schatz vermutete? Einen Schatz, von dem ihm sein enger Freund, das innere Ratsmitglied Ferdinand Schreevogl, kurz vor seinem Tod erzählt hatte?
Simons Gedanken rasten. Der Teufel, die toten Kinder, die Hexenzeichen, die entführte Magdalena, der verschwundene Henker, ein Bürgermeister als Strippenzieher eines ungeheuerlichen Mordkomplotts ... Alles prasselte auf ihn ein. Er versuchte das Chaos hinter seiner Stirn nach Wichtigkeit zu ordnen. Wichtig war jetzt vor allem die Befreiung Magdalenas, und dafür musste er das Versteck der Kinder auf dem Grundstück finden. Aber irgendjemand hatte vor ihm diesen Raum betreten und den Grundstücksplan gestohlen! Alles, was ihm blieb, war eine erste Seite, auf der die Eckdaten der Schenkung festgeschrieben waren. Verzweifelt blickte Simon auf den Fetzen Papier mit den lateinischen Zeilen. Schnell übersetzte er.
Grundstück des Ferdinand Schreevogl, vermacht der Schongauer Kirche am 4. September 1658, Grundstücksgröße: 200 x 300 Schritt, zuzüglich zwei Hektar Wald und ein Brunnen (versiegt).
Versiegt?
Simon glotzte auf das kleine Wort ganz unten am Papierrand.
Versiegt.
Der Medicus schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Dann steckte er das Stück Pergament unter sein Hemd undlief aus dem stickigen Raum. Hastig sperrte er die kleine Türe ab und legte den Schlüssel zurück in die Nische hinter der Kachel. Nach wenigen Sekunden hatte er unten das
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