Die Herren der Unterwelt 01 - Schwarze Nacht
Zentimeter. Vor, zurück. Vor, zurück. Schon bald schwang sie gleichmäßig hin und her. Doch als die Bettlaken etwas nachgaben – vielleicht rutschte sie auch ab – schrie sie auf.
Nur noch ein bisschen. Ich kann es schaffen. Immer schneller schwang sie vor und zurück. Dann endlich kam sie dicht genug an den anderen Balkon heran, um nach dem Geländer zu greifen. Mist! Verfehlt.
Beim nächsten Schwung streckte sie wieder die Hand aus. Ihre Finger berührten das Geländer, doch sie bekam es nicht zu fassen. Wieder flog sie zurück und rutschte noch ein Stückchen tiefer.
Konzentrier dich, Darrow. Sie griff ein drittes Mal nach den Metallstäben, und diesmal krallte sie sich daran fest. Sie ließ nicht los, auch nicht, als das Seil sie wieder zurückreißen wollte. Mit einem Stöhnen warf sie ihr ganzes Gewicht nach vorne, griff mit der anderen Hand nach dem Geländer und ließ das Seil los. Dann machte sie den Fehler, nach unten zu sehen.
Ihr Körper baumelte gut fünfzehn Meter über zerklüfteten Felsen.
Unwillkürlich entfuhr ihr ein Schrei.
Mit klopfendem Herzen schwang sie die Beine hoch und versuchte, mit den Füßen am Geländer Halt zu finden. Immer wieder rutschte sie ab. Dann endlich gelang es ihr, sich mit einem Knie abzustützen.
Ihre Muskeln brannten vor Anstrengung, als sie sich hochzog. Trotz der eisigen Kälte schwitzte sie. Mit zitternden Beinen versuchte sie, das Fenster aufzustemmen, das in das andere Zimmer führte. Es hielt stand. Erst nachdem sie mehrere Minuten wild auf das Glas eingetreten hatte, gab es nach. Ashlyn kletterte hinein und wäre fast vor Erleichterung zusammengebrochen.
Der Raum war genauso dunkel und verstaubt wie der andere. Wieder hörte sie Maddox schreien und kämpfen. Bitte mach, dass ich nicht zu spät komme. Sie war doch schon so nah am Ziel …
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und öffnete sie. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Plötzlich erstarb Maddox’ Stimme, und es war still. Zu still. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Schreien zu unterdrücken. Sie hörte Gemurmel.
„… hätten es ihm nicht sagen sollen.“
„Aber er braucht Zeit, um sich zu beruhigen. Und die hat er jetzt.“
„Vielleicht beruhigt er sich aber auch nie.“
„Egal. Wir haben das Richtige getan.“ Eine Pause. Ein Seufzen. „Ich will die Sache zu Ende bringen und unser Leben wenigstens von einer Last befreien. Lass uns das Mädchen holen und aufbrechen.“
Zitternd drückte sie sich gegen die Wand in eine dunkle Ecke. Sie hörte Schritte. Eine Tür ging quietschend auf, dann zu. Wieder Schritte. Sie entfernten sich von ihr.
Ashlyn rannte in den Flur, sah zwei Männer um die Ecke verschwinden und öffnete die Tür zu Maddox’ Zimmer.
Sie hätte sich fast übergeben.
Er lag auf dem Bett – auf dem Bett, in dem er sie noch vor wenigen Stunden so zärtlich im Arm gehalten hatte –, und um ihn herum hatten sich Blutlachen gebildet. Sein Oberkörper war unbekleidet, und dort, wo das Schwert in ihn eingedrungen war, klafften sechs große Wunden. Sie konnte in seinen Körper schauen. Oh Gott. Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
Wie in Trance ging sie auf ihn zu. Nicht schon wieder, dachte sie. Bitte nicht schon wieder! Diese Brutalität war entsetzlich.
Warum taten diese Ungeheuer ihm das immer wieder an? Er war ein Dämon, sie waren Dämonen – aber das war doch nicht Grund genug. „Für so etwas gibt es keinen Grund“, schluchzte sie. Diese Männer waren einfach nur grausam und herzlos.
Langsam streckte sie die Hand aus und strich Maddox über die Augenbrauen. Seine Augen waren geschlossen; in einem willkürlichen Muster bedeckten Blutspritzer sein Gesicht. Nein, nicht willkürlich. Ashlyn glaubte die Silhouette eines Schmetterlings zu erkennen, mit vielen Winkeln und scharfen Kurven.
Sogar an Knöcheln und Handgelenken lief das Blut hinab – an den Stellen, wo ihm die Fesseln tief ins Fleisch geschnitten hatten.
Ein weiterer Schluchzer stieg in ihrer Kehle auf und brach aus ihr heraus. Plötzlich gaben ihre Knie nach, und im nächsten Moment kniete sie neben seinem Bett. „Maddox“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. „Ich bin hier. Ich werde dich nicht alleinlassen.“ Sie sah sich nach einem Schlüssel um, mit dem sie die Ketten aufschließen konnte, fand aber keinen.
Dann nahm sie seine leblose Hand in ihre. Er war unsterblich. Er würde auch dieses Mal wieder aufwachen. Er würde es wieder schaffen. Oder?
Die Flammen züngelten. Sie
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