Die Herren der Unterwelt 03 - Schwarze Lust
sich daran, wie Anya das erwähnt hatte. Themis hatte den Griechen vor Jahrtausenden geholfen, die Titanen zu besiegen, und entsprechend hatte Kronos sie sofort nach seiner Thronbesteigung einsperren lassen.
Wen sonst könnte er anrufen?
Es gab noch Phoibe, die Göttin des Mondes. Und Atlas, der früher die ganze Welt auf seinem Rücken getragen hatte. Dazu Epimetheus, den Gott, der nachträglich dachte und somit vermutlich der Dümmste aller Götter war. Prometheus hingegen, der vorausschauende Gott, konnte das Gefühl unablässiger Qualen sicherlich am ehesten nachvollziehen. Er hatte Jahrtausende damit zugebracht, sich seine Leber auffressen zu lassen und zuzuschauen, wie sie nachwuchs, nur um wieder aufgefressen zu werden.
Die Mythologie war verzwickt. Die Menschen kannten nur Fragmente der Wahrheit, und die waren obendrein mit Lügen und Unwahrheiten durchsetzt. Paris, der schon vor Urzeiten aus dem Olymp geworfen worden war, wusste nicht, was er glauben sollte. Er wusste nicht, welcher Gott als der stärkste galt, welcher beliebt und welcher verhasst war. Wenn er den falschen Namen anrief … einen Feind heraufbeschwörte … Vielleicht wäre es schlau, eine Frau zu rufen, denn kaum eine konnte dem Dämon Promiskuität widerstehen. Doch gleichzeitig war es natürlich heikel, die Frau eines Gottes zu verführen … Anya hatte ihm erzählt, dass William mit Hera geschlafen hatte, woraufhin Zeus ihm zur Strafe seine Fähigkeit des Beamens genommen hatte – damit er nie wieder blitzartig aus einem Schlafzimmer verschwinden konnte, in dem er nichts zu suchen hatte. Damit er sich vor Ort mit dem wütenden Ehemann auseinandersetzen musste.
Nein, also keine Frauen.
Paris stieß einen Seufzer aus, während seine Gedanken wieder zu Kronos zurückkehrten. Vielleicht sollte er doch gleich den Chef nehmen. Der König der Götter war der Rätselhafteste der ganzen Sippe, er galt als hart und verbittert. Aber er hatte Lucien kürzlich wieder ins Leben zurückgeholt, und das war schließlich genau die Art von Befähigung, die Paris brauchte.
Wenn sich nicht diese ganzen Menschenmassen im Tempel tummeln würden, wäre er noch einmal zurückgekehrt, um das entsprechende Ritual dort zu zelebrieren. Aber so wie es aussah, würde er sich damit begnügen müssen, es hier zu tun. Also schloss er die Augen und sagte: „Kronos, König der Götter, ich rufe dich an.“
Einige Sekunden verstrichen, ohne dass irgendetwas passierte. Paris erwartete nicht, den Gott im Handumdrehen auftauchen zu sehen, er wusste, dass eine Opfergabe nötig war, um ein so hohes Wesen gnädig zu stimmen, sich zu zeigen. Also senkte er langsam und bedächtig seine Arme und schnitt sich mit der Dolchspitze die Brust auf. Zentimeter für Zentimeter klaffte das Fleisch auf, warmes Blut lief seinen Bauch herab und sammelte sich in seinem Bauchnabel.
Immer noch keine Reaktion.
„König der Götter. Ich brauche Euch. Ich ersuche um eine Audienz.“
Das Blut strömte immer noch. Paris stellte ein Glas Wasser auf den Boden, bevor er sich entschloss, mit dem Ritual fortzufahren. Nur für den Fall. Es war Anyas Regenwasser, die Tränen der Erde.
Paris tauchte eine Hand in das Glas, dann ließ er die Tropfen in seine Wunde fallen. Blut und Wasser vermischten sich, das dunkle Rot der Flüssigkeit färbte sich rosa, während sie seinen Bauch herablief und auf den Boden tropfte.
„Ich flehe Euch an, mir einen flüchtigen Blick auf Euch zu gewähren. Demütigst kniend erwarte ich Euch.“ Er hob die Hand mit dem Dolch und schnitt sich erneut kreuz und quer in die Brust. Das Bitten um Anhörung war vertrackter, als man meinen sollte. Beim letzten Mal zum Beispiel war er genauso wie jetzt auf die Knie gefallen, aber anstatt dass sein Flehen erhört wurde, hatte sich ein Dämon in sein Inneres eingeschlichen. „Ich werde für immer hier warten, wenn es Euch beliebt.“
„Ach, tatsächlich?“, tönte eine leise Stimme durchs Schlafzimmer, ironisch und ein bisschen ungehalten.
Paris riss die Augen auf. Obwohl die schlanke Silhouette des Götterkönigs von keinem Lichthof umgeben war, der den düsteren Raum aufgehellt hätte, war Kronos doch deutlich zu erkennen. Paris wäre vor Entsetzen fast umgefallen, er war froh, bereits auf Knien zu sein.
Der Gott hatte dichtes silbernes Haar und einen majestätischen Bart. Seine Augen ähnelten dunklen, unergründlichen Gewässern. Über die Schulter hatte er ein strahlend weißes Leinentuch drapiert, das wallend an
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