Die Herren der Unterwelt 03 - Schwarze Lust
damit er all seine bösen Kräfte entfesselte. Nein, heute würde er nicht zögern. Schmerz konnte in menschliche Seelen hineinblicken, konnte jede Schwachstelle entdecken, selbst den feinsten Riss im Firnis, und dann bohrte er so lange mit seinen vergifteten Pfeilen darin herum, bis der Mensch schrie, brüllte, sich krümmte und die Haut zerfetzte, damit nur endlich der Schmerz aufhörte.
„Heute Morgen“, sagte Lucien, „waren dreiundzwanzig Jäger in dem Gebäude.“
„Die vermehren sich ja wie die Kaninchen“, bemerkte Sabin mit einem boshaften Grinsen. „Jetzt sind es wahrscheinlich schon mehrere Hundert.“
Lucien bewegte sich zum gegenüberliegenden Fenster, sein dunkles Haar flatterte um seine Schläfen. „Wir haben noch etliche Stunden bis zum Einbruch der Nacht. Ich beame mich unsichtbar in das Gebäude hinein, in dem sie sie gefangen halten, lausche und beobachte. Wir müssen wissen, was sie ihnen erzählt hat, und herausfinden, was sie planen.“
Alles, was Reyes mitbekam, waren die „etlichen Stunden“ bis zur Dämmerung. „Sollen wir etwa hierbleiben und nichts tun?“, knurrte er.
„Ja, ganz richtig.“ Lucien beäugte ihn mit seinen verschiedenfarbigen, unruhig in ihren Höhlen rotierenden Augen. „Sollten sie das ganze Gebiet hier überwachen, werde ich ihre Computer sabotieren. Wenn es dunkel wird und die Menschen euch nicht mehr so leicht an eurer Statur und euren Waffen erkennen können, stoßt ihr zu mir. Ich werde draußen im Schatten des Gebäudes auf euch warten.“
Noch mehr Untätigkeit, noch mehr Warterei – für Reyes eine emotionale und physische Tortur. Er hätte am liebsten wild um sich geschlagen, aber das ging natürlich nicht. Stattdessen musste er aufpassen, dass der Dämon die Qualen nicht so sehr genoss, dass er sofort mehr davon verlangte und womöglich die Kontrolle über seinen Körper übernahm.
Bald, vertröstete er ihn.
Das war einer der vielen Gründe gewesen, warum Reyes Danika fortgeschickt hatte, und gleichzeitig einer der wenigen Gründe, warum er sich eigentlich nicht an ihrer Rettung beteiligen sollte. Sie wühlte nicht nur ihn, sondern auch den Dämon auf – und zwar so entschieden, als würde sie mit einem Stock gegen den Käfig eines hungrigen Tieres klopfen.
Wenn er seinem Dämon freien Lauf ließ, wie dieser es sich wünschte, würde er die Kontrolle über sein Tun verlieren. Was, wenn er Danika dabei verletzte? Was, wenn es ihm sogar Spaß machte, sie zu verletzen? Wenn er lächelte, während er ihre Knochen zu Brei schlug? Was, wenn er sie tötete? Und das, nachdem er seinen besten Freund sofort weggeschlossen hatte, als der nur angekündigt hatte, sie zu töten.
Er würde sich selbst nicht mehr ertragen können, würde nicht weiterleben können mit dem Wissen, etwas so Kostbares wie Danika zerstört zu haben. Ja, das wurde ihm jetzt klar. Sie war ihm kostbar. Sie war der Engel für seinen Dämon, der gute Ausgleich für seine böse Seite. Die Freude für seinen Schmerz. Und sie wurde in einem Versteck der Jäger festgehalten, gefesselt, hilflos … leidend.
Wieder färbte sich sein Sichtfeld rot, aber anstatt sich darüber zu freuen, wehrte er sich diesmal dagegen. Verdammt noch mal! Es kam nicht infrage, dass der Dämon das Ruder übernahm, auch nicht, um die Jäger zu bekämpfen. Er selbst wollte das Kommando behalten.
Irgendjemand klopfte ihm auf den Rücken und riss ihn aus seiner Grübelei. „Still jetzt, mein Freund“, sagte eine Frauenstimme.
Ruhig, entspann dich. Reyes drehte sich um und sah sich Cameo gegenüber, der einzigen weiblichen Kriegerin und Trägerin des Dämons des Elends. Schnell schaute er wieder weg. Mit ihren langen schwarzen Haaren, ihren silbernen Augen und ihrer Pfirsichhaut war sie der Inbegriff der Schönheit. Und obendrein war sie eine starke, unerbittliche Kriegerin, trotz ihres zarten, liebreizenden Körpers. Ihr ins Gesicht zu blicken war jedoch unerträglich, denn aus ihren Poren drang das Unglück und Elend der ganzen Welt heraus und nistete sich im Herzen ihres Gegenübers ein.
„Wir holen sie ganz vorsichtig da heraus“, sagte Cameo. Sie wollte ihn beruhigen, bewirkte aber nur, dass ihm das Herz noch enger wurde. „Keine Sorge.“
Bei den Göttern, was für eine Stimme! Er bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, während sich sein Dämon gar nicht mehr einkriegte vor Wonne über den Schmerz, den Cameo ungewollt auslöste. Warum konnte Reyes sich eigentlich nicht von ihr angezogen fühlen?
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