Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
gestorben.
Jetzt war Paris immer noch gezwungen, jeden Tag eine neue Frau ins Bett zu bekommen. Und wenn er keine Frau finden konnte, musste halt ein Mann genügen, auch wenn er sich nie für Männer interessiert hatte. Für den Dämon der Promiskuität war Sex eben Sex. Eine Tatsache, die ihn vor langer Zeit in eine Spirale der Scham gestoßen hatte.
Doch inzwischen musste er sich das Gesicht von Sienna vor Augen rufen, um erregt zu werden, ganz egal wie attraktiv sein Betthäschen war. Er musste dieses Bild festhalten, um die Sache zu Ende bringen zu können, weil jede Zelle seines Körpers wusste, dass die Person, die unter ihm lag, die falsche war. Falscher Duft, falsche Rundungen, falsche Stimme, falsche Haptik. Alles war falsch.
Heute wäre es genauso. Und morgen auch. Und am Tag danach und an dem danach auch. Bis in alle Ewigkeit. Für ihn war kein Ende in Sicht. Außer dem Tod, aber er verdiente den Tod noch nicht. Nicht bevor Sienna gerächt war. Nur, wäre sie das überhaupt jemals?
Du hast sie nicht geliebt. Das ist doch Wahnsinn.
Weise Worte. Von seinem Dämon? Von ihm selbst? Er wusste es nicht mehr. Er konnte die eine Stimme nicht mehr von der anderen unterscheiden. Sie waren ein und dieselbe, zwei Hälften eines Ganzen. Und beide steckten mitten in einer Zerreißprobe, die jederzeit damit enden konnte, dass einer von beiden den falschen Schritt tat.
Bis dahin …
Paris strich über den Beutel in seiner Hosentasche, in der er die getrocknete Ambrosia aufbewahrte, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war noch da. Mittlerweile trug er das wirksame Zeug immer und überall mit sich herum. Nur für den Fall, dass er es brauchte – was häufiger der Fall war, als dass er es nicht brauchte.
Nur wenn Ambrosia in den Wein gemischt wurde, tat der Alkohol, was man von ihm erwartete, und betäubte ihn. Wenn auch nur für kurze Zeit. Doch es erschien Paris so, als müsse er jeden Tag die Dosis erhöhen, um den gleichen Rausch zu erleben.
Er hätte nur seinen Freund bitten müssen, mehr zu stehlen. Die Götter wussten, dass er ein paar friedliche Stunden verdiente, eine Chance, sich zu verlieren. Danach fühlte er sich belebt, stärker und bereit, seinen Feind zu bekämpfen.
Denk jetzt nicht daran. Sobald sie die Burg erreichten, hätte er einen Job zu erledigen. Das kam zuerst, musste zuerst kommen. Er zwang sich, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren und die Gedanken auszublenden. Die farbenfrohen Paläste hatten sie hinter sich gelassen, genau wie die Menschen, die quer über die Straßen liefen. Stattdessen sah er dicht bewaldete Hügel, verlassen und vergessen.
Der Escalade fuhr über eine Felskante und einen dieser Hügel hinauf. Sie wichen den Bäumen und den kleinen Geschenken aus, die er und die anderen für jeden Jäger hinterlassen hatten, der so dumm war, herzukommen, um sie zu erschießen. Mal wieder.
Vor etwa einem Monat hatten sie sein Zuhause gestürmt und ausgebombt. Ein Zuhause, in dem er seit Jahrhunderten gelebt hatte. Die Krieger waren gezwungen gewesen, sich schnell aufzuraffen und auf die nächste Reise zu gehen, um in eine weitere Schlacht zu ziehen. Sie hatten neue Möbel und neue Geräte gebraucht. Das gefiel ihm nicht. In seinem Leben hatte es in der letzten Zeit so viele Veränderungen gegeben – Frauen auf der Burg, die Rückkehr einer alten Freund-Feindschaft, den Ausbruch des Krieges –, dass er nicht viel mehr ertragen konnte.
Endlich kam die Burg in Sicht, ein gewaltiges Monstrum aus Schatten und Stein. Efeu kletterte an den zerklüfteten Wänden empor und verwischte die Grenze zwischen der Burg und ihrer Umgebung so stark, dass man kaum noch sagen konnte, wo das eine anfing und das andere endete. Das Einzige, das sie klar voneinander trennte, war das Eisentor, das nun das Gebäude umgab. Eine neue, weitere Sicherheitsvorkehrung.
Plötzlich lag Ungeduld in der kühlen Luft. Sie spannten die Muskeln an, hielten den Atem an. Gleich da …
Torin, der aus dem Innern der Burg mittels Monitoren und Sensoren beobachtete, was draußen geschah, öffnete das Tor. Als sie langsam auf den großen gewölbten Haupteingang zusteuerten, drückte Aeron seine Armlehne so fest, dass sie kaputtging.
„Bist wohl ein klitzekleines bisschen aufgeregt, hm?“, kommentierte Strider das Missgeschick und sah ihn über den Rückspiegel an.
Aeron antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er die Frage nicht einmal gehört. Auf seinem tätowierten Gesicht spiegelten sich
Weitere Kostenlose Bücher