Die Herren des Nordens
den anderen Behältnissen mit einem Mal recht schäbig wirkte.
Beocca zeigte uns all diese heiligen Schätze, aber sein größter Stolz war ein Knochenstück, das hinter einer Scherbe milchigen
Kristalls zu erahnen war. «Ich war es, der es gefunden hat», sagte er. «Ist das nicht wunderbar?» Er hob den Deckel des Kästchens
an und nahm das Knochenstück heraus, das aussah wie der Überrest eines schlechten Schmorgerichts. «Das ist Sankt Cedds Aestel!»,
sagte Beocca mit ehrfurchtsvoller Stimme. Dann bekreuzigte er sich und studierte mit seinem guten Auge das gelbliche Knochenstück,
als wäre die pfeilspitzenförmige Reliquie gerade eben erst vom Himmel herabgefallen.
«Sankt Cedds was?», fragte ich.
«Sein Aestel.»
|300| «Was ist ein Aestel?», fragte Ragnar. Sein Englisch war nach den Jahren als Geisel sehr gut, aber manche Worte verwirrten
ihn immer noch.
«Ein Aestel ist ein Gerät, mit dem man sich das Lesen erleichtern kann», sagte Beocca. «Man folgt damit den Zeilen. Es ist
wie ein kleiner Zeigestock.»
«Was ist gegen einen Finger einzuwenden?», wollte Ragnar wissen.
«Damit kann man die Tinte verschmieren. Und ein Aestel ist sauber.»
«Und das hat wirklich dem Heiligen Cedd gehört?», fragte ich und spielte den Erstaunten.
«Das hat es, das hat es», sagte Beocca, der angesichts dieses Wunders in einen Rausch der Verzückung geriet, «des Heiligen
Cedds höchsteigenes Aestel! Und ich habe es entdeckt! Es war in einer kleinen Kirche in Dornwaraceaster, und der Priester
dort war ein unwissender Bruder und hatte nicht die leiseste Ahnung davon, was es war. Es lag in einem Hornkästchen, und Sankt
Cedds Name war darauf eingekratzt, aber der Priester konnte nicht einmal lesen. Ein Priester! Des Lesens unkundig! Also habe
ich es beschlagnahmt.»
«Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt es gestohlen?»
«Ich habe es in sichere Verwahrung genommen!», sagte Beocca gekränkt.
«Und wenn Ihr eines Tages heilig gesprochen werdet», sagte ich, «wird jemand Eure müffelnden Schuhe in einen goldenen Kasten
legen und sie anbeten.»
Beocca errötete. «Du machst dich über mich lustig, Uhtred, du machst dich über mich lustig.» Er lachte, aber ich erkannte
an seinem Erröten, dass ich sein heimliches Streben entdeckt hatte. Er wollte heilig gesprochen werden, und warum auch nicht?
Er war ein guter Mann, viel |301| besser als die meisten, die ich gekannt habe und die heute als Heilige verehrt werden.
Brida und ich besuchten an diesem Nachmittag Hild, und ich gab dreißig Shilling für ihr Nonnenkloster. Es war fast das gesamte
Geld, das ich besaß, doch Ragnar vertraute voll darauf, dass wir Sverris Vermögen aus Jütland bekommen würden, und ich vertraute
darauf, dass Ragnar mit mir teilen würde. Also drängte ich Hild das Geld auf, während sie noch erfreut ihr Silberkreuz betrachtete,
das nun in Schlangenhauchs Knauf eingelegt war. «Von nun an musst du das Schwert mit Klugheit führen», erklärte sie mir ernsthaft.
«Ich führe mein Schwert immer mit Klugheit.»
«Du hast die Macht Gottes auf diese Waffe herabgerufen», sagte sie, «und deshalb soll sie nichts Böses mehr anrichten.»
Ich zweifelte, dass ich dieser Anordnung folgen würde, aber es tat gut, Hild zu sehen. Alfred hatte ihr ein bisschen von dem
Staub aus dem Grab Sankt Heddas geschenkt, und sie erzählte mir, dass vermischt mit Sauermilch ein wundertätiges Heilmittel
daraus würde, das schon wenigstens ein Dutzend Kranke unter den Schützlingen der Nonnen geheilt hatte. «Wenn du jemals krank
wirst», sagte sie, «dann kommst du zu mir, und wir mischen den Staub mit frischer Sauermilch und schmieren dich damit ein.»
Ich sah Hild schon am nächsten Tag wieder, als wir alle zur Weihe in die Kirche bestellt waren, in der wir zugleich noch Æthelflaeds
Verlobung bezeugen sollten. Hild war zusammen mit allen anderen Nonnen von Witanceaster im Seitenschiff, während Ragnar, Brida
und ich zu spät gekommen waren und nur noch ganz hinten in der Kirche einen Platz zum Stehen gefunden hatten. Ich war größer
als die meisten anderen Männer, dennoch konnte ich von |302| der Zeremonie, die scheinbar ewig dauern sollte, nur sehr wenig sehen. Zwei Bischöfe sprachen Gebete, Priester verspritzten
Weihwasser, und Mönche sangen Choräle. Dann hielt der Erzbischof von Contwaraburg eine lange Predigt, in der er merkwürdigerweise
nichts über die neue Kirche sagte und auch nichts über die
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