Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Minden schon gekommen war, konnte er nicht genau sagen. Ihm fehlten die Anhaltspunkte in der Landschaft, Bäume und Sträucher verhinderten den Blick auf die Stadt. Nur die beiden Berge in seinem Rücken waren zu sehen. Er schätzte, dass er erst höchstens die halbe Strecke geschafft hatte.
Plötzlich wurde das linke Ufer kiesig. Ludolf konnte hinter einer von mickrigen Büschen bewachsenen Wiese mehrere Felder erkennen. Am Feldrain, keine dreißig Schritt entfernt, stand ein einfacher Karren, der mit Rüben beladen war. Ein Bauer daneben stützte sich auf seine Hacke und starrte herüber. Ludolf hob die Hand und grüßte, bekam aber keine Antwort. Das Gesicht des Mannes blieb ausdruckslos.
Aber hinter dem nächsten Schilfwald war für Ludolf schon wieder Schluss. Ein Boot, ähnlich flach gebaut wie seins, nur breiter und fast doppelt so lang, lag quer in der schmalen Fahrrinne. Zwei Männer, die er im Ort bei der Burg bisher noch nicht gesehen hatte, hievten gerade die sperrigen Reusen mit einigen Fischen aus dem Wasser. Neben ihnen standen ein paar Körbe mit dem Fang des Tages. Erst nach einigen Augenblicken bemerkten die Fischer, dass sie beobachtet wurden. Erschrocken schauten sie auf und hielten sofort in ihrer Arbeit inne. Leise sprachen sie miteinander. Ihr Gesichtsausdruck war dabei alles andere als freundlich. Ihnen stand die Frage auf die Stirn geschrieben, wer wohl dieser Unbekannte war.
»Was machste hier?«, fragte der eine schließlich unfreundlich. »Dieser Bereich ist uns’re Pacht. Hier hat kein and’rer Fischer was zu suchen.«
»Ich komme von der Burg, vom Schalksberg. Eine junge Witwe, Kuneke Wiegand, die Frau des vorherigen Amtmanns, ist verschwunden. Wir suchen nun die Weser ab, ob sie vielleicht hineingefallen ist.«
»Ach, Blödsinn!«, rief der andere Fischer zurück.
»Ich schwöre es. Habt ihr etwas gesehen oder gefunden?«
»Du tust nur uns’re Reusen ausräum’n. Pass auf! Sonst kriste was aufe Schnauze.«
Ludolf winkte beschwichtigend ab. Er hob das rote, noch vor Nässe triefende Tuch hoch und zeigte es den beiden Männern. »Dieses Halstuch habe ich ein Stück weiter oben gefunden. Das gehörte der Frau. Deshalb nehme ich an, dass sie ins Wasser fiel und hier entlangtrieb.«
Die beiden Fischer sprachen wieder leise miteinander. Wie es schien, glaubten sie Ludolf. Ihre Blicke waren nicht mehr ganz so feindselig. Aber sie beobachteten ihn während ihres Gesprächs sehr aufmerksam aus den Augenwinkeln heraus. »Nein. Wir ham keine Leiche gefun’n. Ham auch nichts von and’ren Fischern oder den Schiffsmüllern aus Minden gehört.«
Der zweite Mann ergänzte: »Das Weib wird futsch sein. Was geht’s uns an. Wir müssen nu’ arbeiten.«
»Falls ihr doch noch etwas findet, sagt es bitte unserem Amtmann Resenbach oder dem Priester Anno.«
Die beiden Männer nickten nur. Sie gaben aber den Weg nicht frei. Ludolf wollte keinen Ärger riskieren und die Durchfahrt erzwingen. Ganz umsonst war die Fahrt zum Glück nicht gewesen. Er hatte immerhin Kunekes Tuch gefunden. Sie musste es zwischen der Burg und dem Fundplatz verloren haben.
»Danke!«, rief Ludolf den Fischern noch zu.
Die nickten nur.
Er drehte sein Boot ungeschickt wieder um und stakte zurück. Die Strömung war in diesem schmalen Weserarm zwar nur sehr schwach, aber jetzt machte sie sich doch bemerkbar. Vorhin hatte er sich teilweise treiben lassen können, nun musste er ständig gegen das Wasser kämpfen. Seine Arme wurden bald lahm, sodass er immer wieder Pausen einlegen musste.
Die Hebamme
Beschwingten Schrittes ging Agnes den Weg vom Fluss zur Hütte hoch. Ludolf war unterwegs, um den Weserarm abzusuchen. Sie sang leise vor sich hin. Es ging ihr gut. Die Nacht war zwar nicht besonders erholsam gewesen. Die Hitze, das Gewitter und dann dieser Ludolf. Verwirrende, ja beunruhigende Träume waren immer wieder während der kurzen Phasen gekommen, in denen sie ein wenig Schlaf fand. Sie mochte ihn doch eigentlich überhaupt nicht. Warum hatte sie sich dann von ihm in den Arm nehmen lassen?
Im Näherkommen sah Agnes eine Frau vor der Hütte stehen. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und ganz in Dunkelgrau und Schwarz gekleidet. Ihre Haare konnte man nicht erkennen, denn sie trug trotz des warmen Sonnenwetters eine ebenso dunkle Kappe. Fast hätte Agnes die Frau für eine Ordensschwester gehalten. Aber aus der Nähe erkannte man die bunten Stickereien an den Säumen und am Kragen. Sie schien auf Agnes zu warten;
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