Die Herrin der Kathedrale
gewesen war, nun in der Kirche zu beten.
Erna schluchzte auf, als sie an den aufgeräumten Ständen der Zimmerer vorbeikamen. Noch vor zwei Tagen hatte sie dort unbekümmert Grütze und dünnes Bier an Meister Jan und seine Gesellen ausgeteilt. Weshalb nur war es ihr nicht gelungen, Hazecha so lange in der Schmiede festzuhalten, bis Uta gekommen war?
»Warum sind die Schneeflocken auf Selminas Kopf so grau?«, fragte Luise und starrte befremdet auf die dunklen Eiskristalle, die sich auf den Locken der Schwester absetzten.
»Psst!«, machte Erna und zog ihre Tochter an der Hand zu sich heran.
»Grau?«, fragte Selmina und strubbelte sich mit den Fingern über das Haar. »Ich habe schon mal gelben Schnee gesehen. Du auch Luise?« Die Zwillinge kicherten in kindlicher Unbekümmertheit.
»Zügelt Euch, Kinder!«, tadelte sie Erna, und sofort senkten die Mädchen, die den Brand der vergangenen Nacht verschlafen hatten und noch nicht wussten, dass Hazecha tot war, beschämt den Kopf. »Gott stellt uns auf eine harte Probe«, fügte Erna hinzu und konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen die Wangen hinabliefen. »Hazecha war eine ganz besondere Person«, schluchzte sie an Arnold gewandt, der daraufhin zustimmend nickte. Auch in seinen Augen standen Tränen.
»Lass uns erneut für die Aufnahme ihrer Seele in den Himmel beten.« Arnold drückte seine Frau fest an sich und verlangsamte seinen Schritt. Er hatte Schmerzen im rechten Knöchel, seitdem er mit einer Gruppe Steinmetze und zwei mit Wasser gefüllten Eimern die Treppe zum Dachlauf der Marienkirche hochgehetzt war, um zu verhindern, dass das Feuer übersprang.
Nur wenige Schritte von der Tür der Marienkirche entfernt hielt Erna inne und bedeutete Arnold und den Kindern, auf sie zu warten. Sie wollte das Gespräch zweier Kämpfer verfolgen, die neben ihnen standen.
»Sie liegt wohl krank darnieder«, sagte der eine, woraufhin der andere nach einer langen Pause erwiderte: »Wenn der Herrgott jetzt auch noch die Gräfin zu sich holt, ist das endgültig ein Zeichen. Und warum hat uns der Markgraf zu Allerheiligen nicht die Ehre erwiesen?« Auf diese Frage hin zuckte sein Freund mit den Schultern. »Da hilft auch die schönste Edelsteintruhe für den Schleier nicht, um das Unheil von diesem Ort zu nehmen.«
Unheil? Unsicher streifte Ernas Blick das ferne Wohngebäude in der Hauptburg, dann zog sie Arnold und die Kinder weiter. »Hast du gewusst, dass Uta bettlägerig ist, seit …?« Sie zögerte, die grausamen Worte auszusprechen.
»Ich war seit dem Brand nicht mehr in der Hauptburg«, antwortete Arnold. »Erst heute Abend bereite ich das nächste Mahl für die Herrschaften zu.«
»Ich muss zu Uta und sie trösten.« Unruhig zog Erna ihre Haube vom Kopf. »In solch einer schwierigen Situation sollte niemand alleine …«
»In solch einer Situation«, unterbrach Arnold seine Frau, setzte ihr die Haube wieder auf und strich ihr beruhigend über den Arm, »kann Besinnung und Einsamkeit auch heilend wirken. Vielleicht möchte sie gern Zeit für sich haben, um in Ruhe Abschied nehmen zu können.«
Erna blickte den Gatten verwundert an. So einfühlsam hatte sie nur selten einen vom anderen Geschlecht reden gehört.
»Ich werde Katrina suchen und sie fragen, wie es Uta geht«, beschloss sie. »Das wirst du mir doch sicher erlauben?«
Arnold nickte. »Aber lass uns zuerst ein Gebet für Hazecha sprechen.«
Sie betraten die überfüllte Marien-Pfarrkirche, und Erna war froh, dem grauen Schneegeriesel entkommen zu sein, das sich seit dem Brand wie ein Grabtuch auf den Burgberg gelegt hatte.
»Gegen den Verlust eines geliebten Menschen hilft Ablenkung am besten«, sagte Notburga mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme und schob sich das Gewand über die Knie. Als Esiko sie begehrlich zu sich zog, rieb sie ihren Körper an seinem und begann zu schnurren.
»Ich bin untröstlich über den Verlust meiner Schwester! Und froh, so schnell hergekommen zu sein.« Genüsslich lachte er auf und zog das schwarze Gewand über den Kopf der Hildesheimerin, die sich daraufhin an seinen Beinkleidern zu schaffen machte. »Wartet!«, sagte er dann, packte sie grob an den Handgelenken und zog sie nackt vor das Fenster der Äbtissinnenkammer. Solch einen Anblick würde er so schnell nicht wieder geboten bekommen. Angezogen vom Geschehen im Klostergarten der Benediktinerinnen, in dem sich neben einigen Kräuterbeeten und Holzkreuzen seit neuestem auch eine Grabplatte befand, befahl
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