Die Herrin der Kathedrale
auf sie zu warten, und stieg dann die Stufen zur Krypta hinab. In der Mitte des kleinen Raumes angekommen, faltete sie ihre Hände zum Gebet.
»Geliebte Mutter«, begann sie zu flüstern, »auch wenn es bereits ein Jahr zurückliegt, dass Wigbert mich aufgesucht hat, denke ich doch so gut wie täglich an meine jüngeren Geschwister. Ich spüre, dass sie mich in meinem Tun bestärken. Bitte gebt auch Ihr mir Kraft, denn ich möchte Euch Gerechtigkeit bringen sowie die Kathedrale in den verbleibenden drei Jahren fertigstellen.« Uta öffnete die Augen und schaute auf das steinerne Jesuskreuz an der Wand. Als sie sich im nächsten Moment erheben wollte, erkannte sie hinter der Säule zur Linken des Kreuzes etwas Helles, das dort vor dem Brand noch nicht gelegen hatte. Neugierig zog sie einen weißen Ledereinband hervor und erkannte ihn sofort wieder. In ihm hatte Hermann all seine Zeichnungen verwahrt. Und tatsächlich blickte ihr, als sie den Einband aufschlug, gleich zuoberst eine Zeichnung der fertigen Kathedrale mit ihren vier Türmen zusätzlich des mit Ständen und Händlern gefüllten Marktplatzes entgegen. Hermanns Vision!, durchfuhr es Uta. Und sein Bautagebuch, welches er stets bei sich getragen und in der Turmkammer auf dem Pult verwahrt hatte. »Hermann?«, rief sie in die Dunkelheit der Krypta hinein.
Als keine Antwort kam, schaute sie wieder auf die Zeichnung.
Die Vision des Marktes ist inzwischen Wirklichkeit geworden, dachte sie. Bereits sechsmal war er erfolgreich abgehalten worden. Tuche waren verkauft worden, zudem allerlei Krämereien, Wein in großen Mengen und sogar Leder und Wolle. Dann blätterte sie weiter. Über einer Zeichnung in brauner und roter Tinte hielt sie inne. Es war der Grundriss der Kathedrale, wie er auf dem großen ledernen Gemälde an der Wand der Turmkammer hing. Hermann musste den Grundriss der Kathedrale so fest im Kopf und eine so sichere Hand beim Zeichnen gehabt haben, dass das Vorzeichnen von Blindrillen nicht notwendig gewesen war. Auf der nächsten Seite las sie, mit welchen Materialien jeder einzelne Bauabschnitt zu planen war und mit wie vielen Arbeitern gerechnet werden musste, um den Bau in zehn Jahren bewältigen zu können. Sie blätterte durch die nächsten Seiten und sah weitere Zeichnungen, die mit zahlreichen Beschreibungen und Notizen versehen waren. Eines der hinteren Pergamente offenbarte einen wunderschönen blauen Himmel, den viele goldene Sterne zierten. »Die Altarwand in Gernrode!« Ergriffen blickte Uta auf. Er musste sie gesehen haben, als er ihr nach Gernrode zu Hazecha gefolgt war. Hermann hatte tatsächlich jede Idee, jeden Planungsschritt und jede Erfahrung, die er während seiner vierjährigen Baubegleitung gemacht hatte, festgehalten. Die Informationen in seinem Baubuch würden ihr helfen, die verschwundenen Zeichnungen, zu deren Duplikation sie bisher noch nicht gekommen war, schneller als gedacht zu ersetzen. Was für ein kostbares Vermächtnis er ihr damit doch hinterlassen hatte, bevor er ins Kloster gegangen war!
» Dies diem docet , Hermann von Naumburg«, sagte sie leise, drückte den Einband gegen ihre Brust und ging auf die Treppe zu.
Vor der ersten Stufe stoppte sie, nahm eine Hand vom Buch und ließ sie am Körper hinabsinken. Dann schloss sie die Augen und atmete tief durch. In diesem Moment meinte sie, ihn zu spüren. Erst tasteten nur seine Fingerspitzen nach ihr, dann seine ganze Hand.
Mit geschlossenen Augen schritt sie nun Stufe für Stufe die Treppe hinauf, so sicher, als wäre sie erst gestern zum letzten Mal hier gewesen.
13. GOTTES URTEIL
Noch nie zuvor hatten sie auch im Winter die Nächte durchgearbeitet. Doch die Arbeit hatte Uta mit jedem Tag mehr Kraft gegeben, anstatt sie ihr zu nehmen. Trotz der vielen Aufgaben habe ich an einigen Abenden sogar noch Muße gefunden, in Wipos Entwürfen zu lesen, dachte Uta, als sie mit einem Talglicht in der Hand die Stufen des Ostturmes hochstieg, den wollenen Umhang fest um die Schultern gezogen.
»Das Gerüst für diesen Glockenstuhl müsste doch längst stehen«, sagte sie verwundert, als sie unter dem Dach des nördlichen der beiden Osttürme angekommen war, wo sie Zimmermeister Jan bereits erwartete. Sie grüßte freundlich und ging sofort auf die Schallöffnungen zu, die Maurermeister Joachim auf ihren Wunsch in die Wände des Turmes hatte einarbeiten lassen. »Damit der Klang der Glocke, nachdem er sich in der Glockenstube gesammelt hat, gebündelt in die Ferne fliegen
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