Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
mich damals anders entschieden hätte. Ein geliebter Mann, mein Bruder . . .«
»Euer Bruder ist tot?«, schreckte die Äbtissin auf.
»Ja«, sagte Marocia überrascht. »Leon. Kanntet Ihr ihn, ehrwürdige Mutter?«
Sie senkte die Augen. »Nur vom Hören.«
»Er starb am Garigliano. Wisst Ihr, das einzige Bild, das mir ständig durch den Kopf geht, wenn ich an ihn denke, ist, wie er im
peristyl
unserer Villa versucht, mich zu fangen. Natürlich ist es ihm nie gelungen, ich war zu schnell für ihn. Aber heute würde ich viel darum geben, wenn ich ihn einige Male hätte gewinnen lassen. Seltsam, nicht?«
Die Äbtissin nahm Marocias Hand und lächelte tröstlich. Gleich neben der Bank standen zwei noch junge Ölbäume, und die Nonne deutete auf den Stamm eines der beiden, der viele eingekerbte Zeichen aufwies. »Seht hin. Es ist hier Brauch, den Namen jeder verstorbenen Mitschwester einzuritzen, aber ich glaube, dass niemand hier etwas dagegen haben wird, wenn wir Leons Namen auf den anderen Stamm setzen. So bleibt er lange in Erinnerung. Ich schätze, das hat er verdient.«
Marocia lächelte zurück. »Ja, das hat er.« Mit einer Spange aus dem Schleier der Äbtissin begann Marocia, den Namen ihres Bruders in den feuchten Stamm einzukerben.
Noch während sie damit beschäftigt war, seufzte die Äbtissin: »Ich wünschte, ich wäre einmal dort gewesen. Im
peristyl
, von dem Ihr gesprochen habt.«
»Oh, dazu habt Ihr keinen Grund, glaubt mir. Hier ist es viel schöner.«
Die Äbtissin schmunzelte viel sagend. »Und doch habe ich mir manchmal gewünscht, die Villa Sirene zu besuchen.«
»Ich verstehe nicht, ehrwürdige Mutter«, sagte Marocia und sah verwundert von ihrer Schnitzarbeit auf.
Die Nonne senkte den Kopf. »Ich . . . ich weiß nicht einmal, ob Ihr von mir wisst. Ich bin Blanca, Eure Halbschwester. Meine Mutter ist Theodora und mein Vater, nun ja – der heutige Papst.«
Vierter Teil
Der Kampf um Rom
Der Weihnachtstag, Anno Domini 963
So feindselig die Atmosphäre in der Petersbasilika auch war, so vehement ihre Gegner nun mit ihr abrechneten, Marocias Tag war leichter zu ertragen gewesen als nun der Abend, als die versiegende Stimme Blancas. Ihre Schwester lag vor ihr, wieder einmal bewusstlos, mit nassen Haaren und heißer Haut, mit zitternden Gliedern und krustigen Lippen. Blanca hatte immer betont, dass sie den Tod, wenn er eines Tage käme, mit offenen Armen empfangen werde. Aber nun kämpfte sie doch gegen ihn an, schon zehn Tage und Nächte lang. Vielleicht nicht für sich selbst, sondern für sie, für Marocia. Sie war ihre Stütze, eine Bastion an Zuversicht.
Seit sie sich kannten, waren sie sich nahe. Blanca spendete Marocia Trost in schlechten Zeiten, sie sparte nicht mit Kritik, sagte ihr unangenehme Wahrheiten und überbrachte schlimme Botschaften. Sie war Zeugin der glücklichsten Augenblicke in Marocias Leben – und teilte die schlimmsten Jahre mit ihr. Sie gab ihr mehr, als Marocia zurückgeben konnte. Sie gab immer alles.
Suidger öffnete leise die Tür. Hinter ihm kam der Medicus herein, die große Tonschale wie ein Sakralgefäß vor sich hertragend. Er räusperte sich und sagte: »Es ist wieder Zeit.«
Marocia bemerkte, dass er die ihr gebührende Anrede wegließ. Ihr Titel war nichts mehr wert. Sie trug ihn noch, ebenso wie sie ihren Kopf noch trug. Doch nur wenige Gänge weiter arbeitete ein Mann daran, ihr beides zu nehmen. Der Wind blies ihr ins Gesicht, und die Fahnen gingen mit dem Wind.
»Seid Ihr sicher, dass die vielen Aderlässe ihr nicht schaden?«, fragte sie den Medicus, ohne auf seine Unhöflichkeit einzugehen. »Ich habe bei Fieber früher gute Erfahrungen mit einigen Kräutern gemacht.«
Der Medicus ging nicht auf diesen Vorschlag ein, sondern bereitete alles für den Aderlass vor. Er war der einzige Arzt, an den derzeit heranzukommen war, so blieb Marocia nichts anderes, als seine Ablehnung zu dulden. Erst jetzt sah sie Suidger an, der bislang geschwiegen hatte, und in seinen Augen konnte sie sehen, dass er das Urteil des kaiserlichen Gerichts kannte. Einer der Beisitzer musste es ihm verraten haben. Sie nickte ihm zu und öffnete die Tür.
Im Hinausgehen sah sie noch, wie der Medicus das Messer an dem Leder schärfte und Blancas von Stichen und Schnitten geschwollenen Arm in Position brachte. Dann schloss sie die Tür. Von drinnen drang ein schwerfälliges Plätschern heraus.
Zusammen mit Suidger stieg sie auf die Gartenplattform der Engelsburg, stellte
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