Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
lag auch etwas Gleichgültiges darin, vielleicht sogar Kaltes. Er schlenderte an der Regalfront der Bücher entlang, nahm ein paar Skizzen in die Hand, die den Ausbau der Engelsburg betrafen, ließ sie wieder fallen und spazierte weiter, so als befinde er sich auf einer Düne mit schöner Aussicht. »Ich war gerade in der Gegend, wisst Ihr . . .«
»In einem Bordell.« Sie sprach es so selbstverständlich aus, als sagte sie Haus, Kirche oder Stall.
Er grinste erneut. »Ja, richtig. Und da habe ich von unten Licht gesehen. Ich wusste, dass es von Euch kommt, Mutter.«
Marocia zuckte kurz und unmerklich zusammen. Ganz nebenbei hatte Crescentius sie zum ersten Mal seit dem Abschied in Bari Mutter genannt. Ihr jüngster Sohn war entweder um Nähe und Versöhnung bemüht – oder um etwas ganz anderes.
Er gelangte zum Schreibtisch, setzte sich Marocia gegenüber und stützte sich mit beiden Unterarmen auf die hölzerne Platte. Seine Augen blickten wie die eines diskutierfreudigen Philosophen, als er fragte: »Was könnte ich von Euch lernen, Mutter?«
Marocia war erstaunt. Eine solche Frage war ihr noch nie gestellt worden, schon gar nicht von einem ihrer Kinder.
»Schach«, sagte sie.
»Ist das der Zustand, in dem Ihr Euch nach meiner Frage befindet, oder das, was ich von Euch lernen kann?«
Nun grinsten sie beide im Gleichklang, Mutter und Sohn in schlagfertigem Dialog. Sie konnte tatsächlich alles vergessen, woran Crescentius sie erinnerte. Sie genoss es, seine Haare im Licht der Kerzen golden schimmern zu sehen, ihn leise atmen zu hören, die Stoppeln seines unrasierten Gesichts zu betrachten. Der klamme Geruch der Gosse, der seiner Kleidung anhaftete, wurde vom Duft der Myrrhe in der Bibliothek besiegt, und Marocia stellte sich vor, wie es wäre, diesen jungen Mann immer um sich herum zu haben, als Schüler, als Sohn, als Stimme, die ihr Mut zusprach, und Körper, der neben ihr herlief. Müde senkte sie die Lider.
»Beides«, gestand sie knapp. »Aber es ist jetzt spät, und ich . . .«
Sie wollte aufstehen, doch seine Hand schnellte blitzartig hervor und packte ihr Handgelenk. Seine Augen blitzten kurz auf, um sofort wieder in sich zu versinken. »Bitte, Mutter«, stammelte er. »Geht . . . noch nicht. Es ist mir nicht leicht gefallen, herzukommen, und es soll doch nicht . . . für eine so kurze Episode gewesen sein, nicht wahr?«
Marocia schluckte. Im einen Moment war ihr danach, sich aus Crescentius’ Griff zu lösen, im anderen fühlte sie sich wohl darin. Wann hatte einer ihrer Söhne sie schon von sich aus berührt? In Crescentius’ Hand, so kam es ihr vor, lagen Vergebung und die Suche nach Liebe, lag ein Appell an sie.
»Was willst du wissen?«, fragte Marocia und setzte sich wieder.
»Es gibt so viel, aber . . . Woran arbeitet Ihr momentan?«
»Eine merkwürdige Frage, bedenkt man, dass es deine Erste an mich ist.«
»Tante Blanca sagt, jedes Mal, wenn Ihr atmet, kommt Euch ein neuer Einfall, den Ihr in die Tat umsetzt.«
Marocia lachte auf. »Tante Blanca übertreibt maßlos.«
»Im Ernst«, sagte er und blickte sie gelassen und undurchdringlich an. »Was bewegt Euch zurzeit?«
Marocia warf einen Blick auf die Schriftrollen vor ihr, und aus den Augenwinkeln versuchte sie zu erspähen, ob Crescentius diesem Blick folgte. Er tat es nicht. Alazais’ Worte pochten unaufhörlich in ihr: Belüge deine Kinder nie wieder. Vielleicht hatte ihre Tochter Recht, vielleicht waren nicht ihre Taten, sondern die Zurückhaltung der Wahrheit schuld an diesen vielen verlorenen Jahren ohne die Liebe Alberics und Eudoxias gewesen.
Marocia räusperte sich. »Ich versuche, die Deutschen ins Land zu holen.«
»Zu welchem Zweck?«
Es fiel ihr schwer, über geheime Pläne zu sprechen, dennoch tat sie es. »Zu dem Zweck, Otto I. zum italienischen König zu machen. Das letzte Mal, als ein deutscher König auch über Italien herrschte und unsere Länder friedlich vereinen wollte, war ich gerade geboren worden. Damals endete ein solches Experiment in der schrecklichen Leichensynode. Dieses Mal soll es nicht so kläglich scheitern.«
»Wie?«
»Ganz einfach, ich sorge dafür.«
»Ja, aber wie sorgst du dafür?«
Sie zögerte, hatte sie doch noch keinem außer Lando von ihren Ideen erzählt. Doch an irgendeinem Punkt musste das Vertrauen beginnen. Es konnte ebenso gut jetzt sein.
»Der Königstitel muss nicht das Ende sein, Crescentius. Im Gegenteil, er wäre erst ein Anfang. Italien und das Deutsche Reich
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