Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
offensichtlich als Druckmittel gegen den Pontifex zu benützen würde jedoch mehr Probleme schaffen als lösen. Schnell könnte das Wort von einer babylonischen Gefangenschaft der Kirche die Runde machen, und Byzanz könnte das zur Aufwiegelung der gläubigen Welt gegen Rom benutzen. Fäden, so wusste Marocia, durften stets nur aus dem Unsichtbaren gezogen werden.
»Das hätte ich fast vergessen«, sagte Lando und überreichte ihr eine geplombte Schriftrolle. »Diese Botschaft ist bei der Wache unten abgegeben worden. Das Siegel ist mir nicht bekannt.«
Marocia erkannte es sofort, da sie alle Siegel deutscher Fürstenhäuser studiert hatte. Die Feder und das Kreuz. Gespannt öffnete sie die Rolle. Doch schon beim Überfliegen der ersten Zeilen vergaß sie, Lando zu antworten, vergaß sie alles um sich herum. Langsam stand sie auf, ihre Hände zitterten. Die Plombe baumelte an einer langen Schnur, die an dem kostbar raschelnden Pergament befestigt war. So viel sah auch Lando: Es war ein königlicher Brief – und ein aufregender.
Noch während Marocia ihrem Gemahl die Botschaft zum Lesen gab, sagte sie: »Ich muss in den Lateran.«
»Jetzt?«, fragte Lando erstaunt. »Du weißt doch, was da in diesem Moment vor sich geht.«
»Sofort.«
In den Texten des altrömischen Geschichtsschreibers Sueton hatte Marocia früher schon Berichte über die Feiern der Kaiser Tiberius und Caligula gelesen, und in Capua hatte sie in antiken Villen farbige Mosaike an Wänden und auf Fußböden gesehen, die rauschende Feste darstellten. Doch es war eine Sache, etwas mit dem Verstand zu erfassen, eine andere, wenn alle Sinne beteiligt wurden. Marocia, die bis zu diesem Abend gedacht hatte, bereits alles gesehen zu haben, was das Leben an Überraschungen bereithielt, gestand sich ein, hier und heute eines Besseren belehrt zu werden.
Überall waren Fackeln verteilt worden, die den Garten in ein diffuses Licht tauchten, überall stieg aus Schalen und Kesseln der würzige, nach Weihrauch und Zedernholz duftende Rauch in den abendlichen Septemberhimmel, überall standen lange Tafeln mit kulinarischen Köstlichkeiten darauf herum. Die Gäste – wenn man sie so bezeichnen konnte – waren zum einen Teil junge, schlanke Burschen, zum anderen Teil aber auch reife, kräftige Männer. Sie lieferten sich unter großem Lärm Verfolgungsjagden, sie tanzten zur Musik von Flöten, Schellen und Tamburinen, fütterten sich gegenseitig mit Speise oder Wein, rangen miteinander oder lagen einfach auf dem weichen Rasen beieinander. Zur letzten Gruppe gehörte auch Octavian, den Marocia erst nach einiger Mühe finden konnte – nur leicht bekleidet und in den Armen Ganymeds.
Marocia räusperte sich.
»Manche Szenen wiederholen sich einfach«, sagte sie, als Ganymed sie sah und erschreckt aufsprang. Octavian jedoch verhielt sich anders als damals in dem finsteren Loch im Transtiberim. Er war schon angetrunken und lächelte Marocia an.
»Großmutter, wie schön«, hieß er sie mit ausgebreiteten Armen, aber ohne aufzustehen, willkommen. »Ihr habt mich lange nicht mehr besucht.«
»Weißt du, mein Junge, ich halte mich lieber dort auf, wo ich das Durchschnittsalter nicht so enorm anhebe. Zwischen euch allen hier wirke ich ja wie eine ägyptische Mumie.«
Octavian begeisterte sich für den trockenen Humor Marocias, denn er gackerte wie ein Huhn und kippte dabei halb zur Seite. Ganymed musste ihn wieder aufrichten.
»Ich habe soeben von Königin Adelheid die Nachricht erhalten«, erklärte Marocia ihrem halbnackten Enkel, »dass König Otto I. auf dem Lechfeld bei Augsburg einen gewaltigen Sieg über die heidnischen Ungarn erkämpft hat. Er wird sein Territorium nun erheblich nach Osten erweitern, der Herr ganz Mitteleuropas werden.«
Octavian zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Na, herzlichen Glückwunsch«, kicherte er. Und an Ganymed gewandt: »Nicht wahr, darauf trinken wir.«
Ganymed benahm sich wesentlich nüchterner, und seine Miene deutete darauf hin, dass er die Situation nicht annähernd so komisch fand wie sein päpstlicher Gefährte.
»Das ist noch nicht alles«, fügte Marocia ein wenig belehrend hinzu. »Seine Truppen und der Adel haben ihn noch auf dem Schlachtfeld zum heiligen römischen Kaiser ausgerufen, zum
imperator sanctum romanorum
.« Sie machte absichtlich eine bedeutungsvolle Pause, die Octavian allerdings nur für ein weiteres Schulterzucken nutzte.
»Und?«, fragte er.
Marocia atmete tief durch. Ganz langsam, jedes
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