Die Herrin der Pyramiden
Nachmittag verbrachte ich auf einer Liege in meinem Garten und wartete vergeblich auf Rahotep. Stattdessen kam eine Nachricht von ihm: »Geliebte Nefrit. Zu meinem Bedauern habe ich heute von deinem Unfall auf der Pyramide erfahren. Ich wünsche nicht, dass du dich künftig auf der Baustelle der Gefahr weiterer gefährlicher Verletzungen aussetzt. Rahotep.«
Ich kochte vor Wut: Er verbot mir den Besuch der Baustelle! Ich beschloss, mit Rahotep darüber zu sprechen.
Als die ersten Strahlen des Re den Horizont streiften, erwachte ich. Eine Dienerin, die den Augenblick abzupassen hatte, in dem ich die Augen öffnete, zog sofort das segelartige Leinentuch vor dem Fenster zurück, um die ersten goldenen Strahlen hereinzulassen. Ich schlief allein in meinem Bett.
Als ich mich erhoben hatte, ging ich zunächst baden. Dafür benutzte ich jedoch nicht die Alabasterwanne in meinem Baderaum, sondern, nach Abstimmung mit Iset und ihrem Gemahl, das Wasserbecken in unserem gemeinsamen Garten. Das tägliche Füllen der Badewanne mit Hilfe von Krügen, die von Bademädchen herangeschafft werden mussten, dauerte mir meist zu lange. So verzichtete ich bei meinem täglichen Bad zwar auf die duftenden Essenzen, erhielt sie aber in Form von Salben und Ölen nach dem Bad in die Haut massiert. Eine entspannende Massage im Garten, die ich oft gemeinsam mit Iset genoss, wurde mit dem Bürsten und Ordnen meiner Haare beendet. Weil ich im Bett auf die Nackenstütze verzichtete und meine langen Haare morgens zerwühlt waren, hatte ich in den ersten Tagen eine Auseinandersetzung mit meiner Vorsteherin der Perücken. Ich erkannte, dass der Hof nur ein Abbild von mir wollte, aber nicht mich selbst.
Mehrere Dienerinnen halfen mir beim Ankleiden in einem eigens dafür ausgestatteten Nebenraum. Das für diesen Tag vorgesehene Kleid wurde mir von zwei Mädchen über den Kopf gezogen, eine weitere Dienerin reichte mir die Sandalen, eine andere meinen Schmuck, wieder eine andere die Perücke.
Mein Zeremonienmeister Reni, den Rahotep mir zur Verfügung gestellt hatte, nachdem er sich selbst einen neuen gesucht hatte, führte mich Schritt für Schritt in das komplizierte Hofzeremoniell ein. Er klärte mich auf über die Rangordnung innerhalb der Familie, der Würdenträger sowie der angeschlossenen Beamtenhierarchie. Ich verfeinerte meine Kenntnisse über zeremonielles Verhalten gegenüber jedem Beamtenrang.
»Neben den Würdenträgern der Regierung Seiner Majestät gibt es noch die Freunde des Königs. Diese Freunde des Königs sind von den strengen Vorschriften im Palast befreit. Sie brauchen bei Audienzen nicht den Boden vor dem Thron Seiner Majestät zu küssen, sondern haben das Privileg, den Fuß des Lebendigen Gottes mit ihrer Nase berühren zu dürfen. Sie dürfen sich in seiner Anwesenheit erheben.« Reni hatte eine unendliche Geduld bei meinen Fragen und Nachfragen und mit meinem Unverständnis für manche Zeremonien, die er mir wieder und wieder erklärte. Tagelang saßen wir im Garten zusammen, bis er zufrieden war.
Dann, nach meiner fünftägigen Ausbildung in den Grundzügen des Zeremoniells, wurde ich der Großen Gemahlin vorgestellt. Ich hatte sie zwar anlässlich der Horusfahrt ins Untere Land gesehen, war aber nie offiziell mit ihr bekannt gemacht worden.
Königin Hotephores war eine Frau von dreißig Jahren, einige Fingerbreit kleiner als ich und zierlich. Neben ihr kam ich mir vor wie eine ungelenke Holzpuppe. Sie trug ein eng anliegendes Kleid ähnlich meinem Hochzeitskleid und ein transparentes Überkleid. Über einer Perücke mit tausend Zöpfen, die ihr bis zum Gürtel reichten, ragte die goldene Geierkrone. Sie empfing mich am späten Abend.
Hotephores war eine Frau, die ihrer Existenz einen Sinn zu geben verstand. Sie stand als Große Gemahlin an der Seite des Königs und nahm ihm viele rituelle und repräsentative Pflichten ab. Wie sehr unterschied sich ihre Rolle von der einer der Nebenfrauen! Hotephores hatte ihrem Gemahl zwei Söhne und eine Tochter geschenkt. Mit der Geburt von Merit als Trägerin der Königswürde war ihre Pflicht als Gottesgebärerin erfüllt.
Hotephores hatte während der sechzehnjährigen Regierungszeit ihres Gemahls ihre eigene Person immer in seinen Schatten gestellt. Es schien, als existierte nur ihr Abbild in Form von Reliefs, Statuen und ihrer selbst als Repräsentantin eines Staates, den nicht sie selbst lenkte, für deren korrekte Regierung sie aber verantwortlich war, indem sie
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