Die Herrin der Pyramiden
schienen von nicht allzu weit her gekommen zu sein, vielleicht aus Tis, vielleicht aber auch aus Abodu. Eine Frau, die ihr Kind während der Schwangerschaft nicht einfach abtrieb, eine Frau, die ihr Kind nach der Geburt nicht einfach erstickte, sondern gegen Gold bei einer Amme auf einem kleinen Dorf aufwachsen ließ, hatte etwas zu verbergen: mich.«
Auch ich hatte die Lust am Essen verloren und reichte meinen Teller zurück.
Meresankh beobachtete mich irritiert, weil ich meine Rede unterbrochen hatte. Sie hing an meinen Worten, als sei ich eine Märchenerzählerin auf dem Markt in Mempi.
»Ich hätte meiner Mutter schaden können. Also muss es sich um eine reiche und wichtige Dame gehandelt haben. Der Tempel von Abodu nimmt nicht nur Kinder auf, die auf seiner Schwelle abgelegt werden, sondern auch werdende Mütter, die die Geburt vor der Welt oder ihrem Gemahl verbergen wollen. Ein Kind, das im Tempel geboren wurde, das von den Tempeldienern im Auftrag seiner Mutter zu einer Amme gebracht wurde, um fern vom Haus des Gottes aufzuwachsen, und eine Frau, welche die Priester als Herrin bezeichnen. Das ist meine Geschichte.«
»Eine faszinierende Geschichte!«
»Wenn es die Geschichte von jemand anderem wäre, würde ich sie auch faszinierend finden.«
Meresankh wusch ihre Hände mit Zitronenwasser. »Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht und hatte doch nur Söhne. Ich bin stolz auf meine Söhne: ein König, ein Wesir und ein General. Aber eine Tochter ist etwas völlig anderes!« Woher wollte sie das wissen? »Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht hätte, Nefrit. Du bist aus dem gleichen harten Holz geschnitzt wie ich. Du hast keine Mutter, und ich habe keine Tochter. Sei meine Tochter, Nefrit!«
Stundenlang lag ich auf meinem Bett und fragte mich, welches Interesse die Königinmutter an mir hatte. Was suchte sie in mir? Was glaubte sie zu finden?
Es war schon nach Mitternacht und ich konnte nicht schlafen. Ich ging in den Gärten des Palastes spazieren. An einem Lotusteich blieb ich stehen, um den Sternenhimmel zu betrachten. Plötzlich spürte ich, dass ich nicht allein war. Der Lebendige Gott saß einige Schritte entfernt im Schatten eines Baumes.
»Euer Majestät! Ich wollte Euch nicht stören.« Ich verbeugte mich dem Zeremoniell entsprechend und wollte schon den Rückzug in meine Räume antreten, als er mich ansprach.
»Geheimnisvolle Nefrit! Was treibt dich zu dieser Stunde durch die dunklen Gänge des Palastes?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Dann setz dich für einen Augenblick zu mir.«
Ich setzte mich neben ihn. »Und warum seid Ihr um diese Zeit noch auf, Euer Majestät?«
»Ich arbeite oft noch spät.«
»Ich auch.« Die Worte entfuhren mir, obwohl ich sie nicht aussprechen wollte.
»Du auch? Was arbeitest du um diese Zeit?«
»An den Bauplänen für Eure Pyramide, Euer Majestät.«
»Ach ja, die Pyramide …« Er ließ mich nicht aus den Augen. Dann ergriff er meine Hand und ließ sie nicht mehr los. »Warum hast du Angst vor mir?«
»Euer Majestät, ich habe keine Angst.«
»Deine Hand zittert.«
»Sie zittert
nicht
.«
Mein Widerspruch amüsierte ihn. »Vor Jahren habe ich dich gefragt, wie oft ich die Berührung deiner Hand ignorieren soll. Weißt du noch, was du geantwortet hast?«
»Ich sagte: So oft Ihr wollt, Euer Majestät.«
»Ich
will
sie nicht ignorieren, Nefrit!«, flüsterte er.
Ich antwortete nicht.
»Ich gehe jetzt schlafen.« Er erhob sich. Er hielt meine Hand wie einen kleinen Vogel. Was erwartete er von mir?
Seine Blicke brannten wie Feuer auf meiner Haut. Ich wagte keine Bewegung. Seine bloße Gegenwart setzte mich in Flammen.
Dann küsste er meine Hand und ging.
In drei Tagen würde ich nicht mehr
ich
sein, sondern Prinzessin Nefrit-Neferu-itet. Mir war nicht einmal mein Name geblieben!
Ich hatte Rahotep seit fast vier Wochen nicht gesehen. Er war kurz vor den fünf letzten Tagen des Jahres nach Iunu abgereist und erst vor wenigen Stunden zurückgekehrt. Ich bezähmte meine Ungeduld bis zum Nachmittag, dann suchte ich seinen Arbeitsraum auf.
»Ich will zu Rahotep.« Ich war gespannt, welche Antwort Ameni mir geben würde. Ich wurde nicht enttäuscht:
»Es tut mir Leid, aber der Prinz ist in einer Besprechung.«
»Der Prinz ist andauernd in einer Besprechung. Wer ist bei ihm?«
»General Ti.«
»Ti. Immer Ti. Der unvermeidliche Ti. Jetzt hat er mit
mir
eine Besprechung.«
»Du kannst jetzt nicht hineingehen«,
Weitere Kostenlose Bücher