Die Herrin der Pyramiden
beobachte nur die Natur und kopiere sie.«
»Überlasse mir die Skizzen, Nefrit!«
»Wozu?«
»Seit mehr als zwei Jahren suche ich einen Entwurf für die Ausgestaltung meines Grabmales in Pihuni. Die mir vorgelegten künstlerischen Entwürfe waren alle langweilig und entsprachen immer nur dem üblichen Schema für die Gestaltung von Privatgräbern. Das hier ist etwas völlig anderes, Nefrit. Wärst du bereit, die Ausgestaltung des Grabes zu übernehmen?«
Eine Stunde nach meinem persönlichen Triumph hörte ich mir die Beschwerden der Arbeiter an und diskutierte die Vorschläge zur Lösung des Problems. Dann kehrte ich zu Prinz Nefermaat ins Bauleiterzelt zurück.
»Was wollen die Arbeiter?«, fauchte der Wesir.
»Sie wollen mehr Kupfer, mein Prinz.«
»Wie viel mehr Kupfer?«
»Sie wollen zwei Deben pro Mond.«
»Das ist völlig ausgeschlossen! Der Staatshaushalt ist wegen dieser zweiten Pyramide bereits erschöpft. Seine Majestät plant Feldzüge nach Libyen und Kusch. Es ist nicht genug Kupfer da, den Arbeitern das doppelte Gehalt zu zahlen.«
»Wenn diese Pyramide noch zu Lebzeiten des Lebendigen Gottes fertig werden soll, dann gib ihnen das verlangte Kupfer!«
Prinz Nefermaat reagierte sofort. Wenige Tage später traf ein Schiff aus Pihuni ein, das den Arbeitern die versprochene Menge Metall brachte. Da die Kupfervorräte in den Schatzkammern erschöpft waren, wurde den Arbeitern die Lohnerhöhung in kleinen Goldstücken ausbezahlt. Die Arbeiten an der Pyramide wurden innerhalb von Stunden wieder aufgenommen, als für die Arbeiter sichtbar wurde, dass ich mich an meine anderen Versprechungen hielt, die Essensrationen zu vergrößern und die tägliche Arbeitszeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu verkürzen, damit die Abendmahlzeit noch während des Tageslichts eingenommen werden konnte.
Prinz Nefermaat rüstete zum Aufbruch nach Pihuni, als offensichtlich wurde, dass die Arbeiten weitergingen. Doch zuvor befahl er mich in sein Zelt, in dem die Verwaltung des Reiches auch während seiner Abwesenheit von der Residenz Pihuni weiterging. Ich musste einige Zeit warten, bevor der Wesir mich empfing. Er saß in Schreiberhaltung, das Schreibbrett auf den Knien, und verfasste ein Dokument. Vier Sekretäre und deren Schreiber waren ebenfalls im Zelt anwesend. Nefermaat schickte sie hinaus, als ich die zeremonielle Begrüßung abgeschlossen hatte.
»Nefrit, ich bin dir dankbar für deine Bemühungen zur Fortsetzung der Arbeiten auf der Baustelle.«
»Ich habe meine Pflicht getan, mein Prinz.«
»Das weiß ich. Und ich befehle dir nochmals, deine Pflicht zu tun!«
»Ich verstehe nicht …«
»Mein Sohn Sarenput hat dich vor wenigen Tagen um die Ehe gebeten.«
»Ja, das ist wahr, mein Prinz.«
»Ich will, dass du weißt, dass ich diese Ehe nicht gutheißen werde, obwohl ich deine Leistungen als Gehilfin deines Vaters Kamose und als meine persönliche künstlerische Beraterin bei der Ausgestaltung meines Grabes in Pihuni sehr schätze. Mein Sohn ist entschlossen, dich zu heiraten, aber ich halte das für keine gute Idee. Prinz Sarenput ist verlobt. Ich erwarte, dass er seine Pflicht erfüllt.«
»Er ist verlobt? Davon hat er mir nichts erzählt.«
»Hat er nicht? Wie dem auch sei: Ich erwarte von dir, Nefrit, dass du seinen Antrag ablehnst. Du wirst ihn nicht heiraten.«
Nach meinem persönlichen Triumph, für meine bautechnischen und künstlerischen Fähigkeiten belobigt und ausgezeichnet zu werden, war dies eine Demütigung: Keine vollbrachte Leistung konnte meine Herkunft aufwiegen.
In den letzten Wochen hatte ich meine Studien bei Rechmire vernachlässigt. Ich konnte mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal den Unterricht besucht hatte. Meine Tätigkeit auf den verschiedenen Baustellen der Pyramide sowie der Residenz und dazu noch die Entwürfe für Nefermaats Jenseitspalast in Pihuni, all das verhinderte einen regelmäßigen Besuch der Lehrstunden. Hin und wieder besuchte jedoch Sarenput den Unterricht und zeigte mir seine Aufzeichnungen, damit ich mit dem Lernpensum Schritt halten konnte. Ich bezog ein Zelt auf der Baustelle und gab meine Kammer im Tempelbezirk auf. Vormittags war ich in der neuen Residenz, nachmittags an der Pyramide, abends saß ich beim Schein einer flackernden Öllampe und lernte für die bevorstehenden Prüfungen.
Alle paar Wochen besuchte ich Rechmire auf der Tempelbaustelle und stellte ihm Fragen zum Lernstoff, den ich versäumt
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