Die Herrin der Rosen - Historischer Roman
Edward, vermisste, war offensichtlich. Einmal legte er seinen Arm um die kleine Anne und sagte wehmütig: »Mein Edward würde dich mögen.«
»Ist Anne nicht zu sanftmütig für den Prinzen?«, fragte ich, unfähig, meine Neugier im Zaum zu halten.
»Sanftmütig wie der winzige Rotfink, der den harschen Winter nicht flieht«, antwortete Henry lächelnd.
Anne, der winzige Rotfink, stemmte sich immerhin auch gegen ihren strengen, mächtigen Vater, indem sie kein Fleisch aß.
Nur ein einziges Mal in all den Monaten wagte Henry, Marguerite zu erwähnen.
»Habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten von meiner Königin?«, fragte er John scheu. »Ich kann mich meiner Sorge um ihr Wohl nicht erwehren.« Er sprach sehr leise und verhalten, als fürchtete er, seine Besorgnis könnte als Beleidigung aufgefasst werden.
John erzählte ihm so behutsam wie möglich von Marguerites Abenteuern. »Die Königin und Prinz Edward sind sicher in Wales, mein König. Sie verließ Coventry, als sie von der Niederlage bei Northampton erfuhr. Auf dem Weg wurde sie überfallen und ihres Schmuckes beraubt, doch weder sie noch der Prinz kamen zu Schaden.« Was Marguerite bei dem Überfall hatte erleiden müssen, sparte John ebenso aus. Auch sagte er nichts darüber, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um eine Armee gegen die Yorkisten aufzustellen und ihren Gemahl zu retten.
»Ich habe für meine teure Königin gebetet«, sagte Henry traurig.
Doch Henrys Lieblingsthema blieb Gott. Die Mönche waren seine besten Freunde. Mit ihnen konnte er stundenlang über die Mysterien des Geistes und der Welt nachdenken. Ich hatte ihn mir abgestumpft, wahrer Gefühle oder tiefer Gedanken unfähig vorgestellt und musste nun erkennen, wie falsch ich ihn beurteilt hatte – und wie ungerecht! Ich lernte, ihn für seine Güte zu bewundern. Henry mochte als Herrscher versagen, als Mensch versagte er nicht; er war rein im Tun und Denken, ein wahrer Mann Gottes. Henry hat etwas von einem Heiligen, dachte ich. Sogar Warwick, der schroff und arrogant gegenüber jenen sein konnte, die er verachtete, zollte Henry Achtung und Respekt, denn nur ein herzloser Mensch könnte dem sanften Henry schroff begegnen.
Was seinen Verstand betraf, war König Henry in Dingen, die ihn interessierten, außerordentlich hell und gelehrt. Er stellte den Mönchen Fragen, die selbst ihnen Rätsel aufgaben, sodass sie ihre alten Schriften konsultieren mussten.
Und so vergingen die letzten ruhigen, schönen Sommertage des Jahres 1460.
Während die Unruhen beigelegt wurden und eine gute Regierung ihre Arbeit aufnahm, kam Nachricht, dass der Duke of York auf dem Weg von Irland nach England war. Am zehnten Tag des Oktobers, als sich das Laub rot färbte, erreichte er London, wo man ihn jubelnd und mit einem Meer weißer Rosen empfing. Das York-Wappen wurde von Kinderhänden geschwenkt, schmückte das Haar junger Mädchen und steckte an Kappen und Kragen der Männer. Alle wollten einen Platz ergattern, von dem sie York sehen konnten; wendige Jungen kletterten auf Dächer und hohe Mauern, und Väter setzten sich ihre Kinder auf die Schultern.
Vom Balkon der Residenz an der Themse konnten wir den Duke of York bereits sehen, als er die London Bridge passierte. Auf halbem Weg aber hielt die Prozession an.
»Was ist?«, fragte Maude, die ihren Hals reckte. »Warum halten sie inne?«
Keiner antwortete. Dann sahen wir, dass Männer die Spieße abnahmen, auf denen die Köpfe von Verrätern verwesten.
»Oh, mein Gott!«, hauchte die Countess und schluckte. »Roger …«
»Heilige Maria, Mutter Gottes«, murmelte ich. Mein Magen revoltierte gegen das, was ich sah. Sie mussten Roger Neville unter den Köpfen entdeckt haben, und nahmen sie alle ab, damit sie ein christliches Begräbnis bekamen. Doch immer noch ging es nicht weiter.
Die Sonne brannte heißer auf den Balkon, was mein Unwohlsein noch steigerte. Schließlich rührte sich die Menge auf der Brücke wieder, und die Prozession bewegte sich weiter, mit Fanfarenklang und Taborschlägen. Und jetzt erst war der Duke deutlich zu erkennen. Wir alle verstummten. Er war prachtvoll gewandet, in Maulbeer und Azurblau, den Farben des Hauses York. Aber er trug sein Schwert aufrecht vor sich her wie ein König. Der Duke hatte mindestens fünfhundert Mann mitgebracht, alle in seinen Farben, und bei ihm waren sein Sohn Edmund, Earl of Rutland, sein guter Freund Lord Clinton sowie mehrere andere Lords in Azur und Weiß mit aufgestickter Fessel,
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