Die Herrin des Labyrints
denken.«
»Natürlich.«
»Ach, und Amanda …«
»Ja?«
Halima lag in ihrem Bett, todmüde zwar, aber glucksend vor Lachen. Sie reichte mir die Münze und kicherte vor sich hin.
»Was ist? Hast du eine Vision gehabt?«
»O ja! Oh, Amanda, wie simpel, wie absolut irrwitzig simpel!«
»Ja, was denn?«
»Der Name der Tänzerin! Die Lösung des Rätsels!« Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen, und ich musste gestehen, dass ich ein wenig ungeduldig wurde.
»Halima, wenn du ihn weißt, dann sag ihn mir doch! Damit ich wenigstens mitlachen kann.«
»O nein«, keuchte sie. »Nein, den werde ich dir nicht verraten. Du findest ihn schon noch selbst heraus.« Mit strahlenden Augensah sie mich an. »Es ist wirklich ziemlich einfach.« Dann gluckste sie noch einmal überaus amüsiert vor sich hin, schloss die Augen und war eingeschlafen.
KAPITEL 62
Rückführung in die Familie
Nandi hielt sein Versprechen. Am folgenden Montag trafen wir uns gemeinsam bei Dr. Wentz, wo ich die beglaubigten Unterlagen vorlegte. Es gab natürlich eine Menge bürokratische Dinge zu erledigen. Die abschließenden Formalitäten, die notwendig waren, damit ich die Verfügungsgewalt über mein Erbe bekam, würden noch einige Zeit dauern, aber grundsätzlich war ich als Josianes Tochter anerkannt. Als ich aus dem Büro des Notars kam, gratulierten Henry, Patrick und Nandi mir, und einigermaßen erstaunt ließ ich mich auch von Valerie umarmen. Sie sah ausgesprochen gut aus an diesem Tag, und sie legte anschließend besitzergreifend die Hand auf Nandis Arm, als er mich ein wenig zu lange an sich drückte.
»Feiern wir! Kommt, ich habe einen Tisch reservieren lassen.«
Es wurde später Nachmittag, als wir uns trennten. Dann erst fand ich Zeit, den verschlossenen Umschlag zu öffnen, den Gita ihrer Enkelin hinterlassen hatte.
Es war ein Brief, den ich mit tiefer Bewegung las. Gita hatte ihn zwei Monate vor ihrem Tod geschrieben, und ihre Schrift war schon unsicher und ein wenig zitterig geworden. Aber sie war deutlich zu lesen.
Liebe Amanda, die ersten Blumen des Jahres sind aufgeblüht und leuchten in der Morgensonne vor meinem Fenster. Vierundachtzig Mal habe ich den Frühling erlebt, doch dieser hier scheint mir besonders schön zu werden. Aber wahrscheinlich empfinde ich nur so, weil es der letzte ist,
den ich bewusst miterlebe. Natürlich trauere ich deshalb ein wenig, denn ich habe gerne gelebt. Doch andererseits bin ich auch müde geworden, und darum fällt mir der Abschied nicht schwer. Vor allem, weil ich jetzt weiß, dass Du lebst, dass Du gesund und stark bist und mir Deine Zuneigung entgegenbringst. Lange habe ich mit mir gerungen, oft war ich unsicher, wie ich mit meinem Wissen an Dich herantreten sollte. Inzwischen ist Dir sicher klar geworden, dass es ein geradezu unglaublicher Zufall war, der Dich zu mir geführt hat. In den ersten Monaten konnte ich es selbst nicht glauben, dass Du die Tochter meiner Josiane bist, auch wenn Dich die weiße Haarsträhne und die Ähnlichkeit in Gesicht und Haltung – zumindest für mich – als meine Enkelin auswiesen. Aber dann lernte ich Dich immer näher kennen, verspürte Deine innere Zerrissenheit, die quälende Frage nach Deinen Wurzeln, und ich fühlte, dass ich Dich nicht einfach damit überfallen konnte. Ja, selbst wenn ich es gewollt hätte, Amanda, ich hätte Dir nicht auf einfachere Weise helfen können, meine Möglichkeiten und meine Kraft sind inzwischen zu gering, und die Zeit ist nun mein Gegner geworden. Darum musste ich Dich mit den wenigen Hinweisen, die ich selbst noch besitze, auf die Suche schicken. Ich hoffe, es war nicht zu schwierig und zu erschütternd für Dich, die Vergangenheit aufzurollen. Es mag sein, dass Du, wenn Du dieses Schreiben in den Händen hältst, auch schon das Rätsel in meinem Testament gelöst hast – ich weiß, die Verse sind keine poetische Glanzleistung –, aber das Vermächtnis meiner Mutter ist nicht von der Art, dass man es unkommentiert weitergeben kann. Darum hast Du oder wirst Du auch danach suchen müssen. Liebe Amanda, wie gerne hätte ich Dich aufwachsen sehen, Dir bei Deinen großen und kleinen Problemen meinen besserwisserischen Rat aufgedrängt, mich in Dein Leben eingemischt und Dich bewundert, wenn Du Dich trotz allem zu einer selbstbewussten, lebensfrohen und fröhlichen Frau entwickelt hättest. Es tut mir leid, dass Du heute unter einer Vergangenheit leidest, die Dir die Flügel beschnitten hat.
Aber ich habe in den
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