Die Herrin des Labyrints
Geliebter. Ich hörte, wie er mich rief: »Amanda! Amanda!« Aber das stimmte nicht, das war nicht mein Name, und darum wandte ich mich wieder ab, um in die Tiefen zu gleiten. »Komm zurück!«, forderte er, aber ich mochte nicht bei diesem falschen Namen genannt werden. Ich war traurig darüber, denn wenn er mich bei meinem wahren Namen gerufen hätte, wäre alles gut gewesen, was je falsch war. Dann wären die Welten miteinander verbunden, die getrennt wurden, nachdem ich meinen Namen verloren hatte. Ich weinte darüber und ließ mich ins Dunkel treiben. Dort wanderte ich auf gewundenen Pfaden, erst zwischen engen grauen Mauern, doch allmählich wurden sie weiter und verwandelten sich in grünende Hecken. Es gefiel mir, und ich verweilte dort, wo die Büsche so niedrig wurden, dass ich mich an sie lehnen und darüber hinweg sehen konnte. Die Landschaft, die da vor mir lag, war mir fremd, doch nicht unvertraut, und als über dem Horizont langsam ein beinahe voller Mond aufging, konnte ich in seinem blassen Licht allmählich die einzelnen Konturenerkennen. Dort gab es die schwarzen Silhouetten spitzwipfeliger Bäume, solche von runden, am Boden knienden Büschen und die Formen von schlanken Säulen eines alten Tempels. Das Bild strahlte Ruhe aus, und als der Mond höherstieg, öffneten sich in dem Gezweig der Hecke kleine weiße Blüten. Sie verströmten einen zarten Duft, der mich fern an Sandelholz erinnerte. Er hüllte mich ein, und ich fühlte mich wohl und geborgen. Eine Nachtigall stimmte ihr Lied an und füllte mit ihren melodiösen Trillern die nächtliche Stille. Aber es blieb nicht nur ihr Gesang, der die Nacht zum Leben erweckte. Von ferne näherten sich menschliche Stimmen, Flöten und Trommeln begleiteten das Singen, und eine Gruppe von Männern und Frauen näherte sich der runden Wiesenfläche, die sich vor mit ausbreitete. Die Männer trugen Fackeln in den Händen, und die Frauen waren in hochgegürtete weiße Gewänder gekleidet. Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, bildeten sie einen weiten Kreis und begannen einen gemessenen Schreit-Tanz. Es sah harmonisch und wundervoll gelassen aus, wie die Tänzerkette sich umkreiste, mal die Richtung wechselte, mal in großen, mal in engeren Bögen um eine imaginäre Mitte tanzte und sich schließlich in Spiralbewegungen dort versammelte. Dort standen sie einige Takte lang still und hoben die Fackeln, dann aber übernahm die letzte Tänzerin der Kette die Führung, und mit ihr tanzten die anderen in den gleichen komplizierten Windungen wieder zurück, so dass alle wieder einen weiten Kreis bildeten. Fasziniert sah ich ihnen zu, versuchte, das Muster zu erkennen, nach dem sie sich bewegten, doch von der Stelle aus, von der ich sie beobachtete, blieb mir das verborgen. Aber plötzlich, als sich die Anführerin des Tanzes in meine Richtung wendete, da fiel der Schimmer des Mondes auf ihr Haar, und ich sah, dass eine silbrig weiße Strähne sich von ihrer Schläfe durch das schwarze Haar zog, das lang über ihren Rücken fiel.
Dann hörte ich die Stimme wieder. Leise, flüsternd, bittend. Sie rief meinen wahren Namen, und ich erwachte.
Es war niemand im Zimmer. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich mich wohl in einem Krankenhaus befand. Vergessen war der wunderliche Traum, denn jetzt bemerkte ich, wie sehr mirdie verschiedensten Körperteile weh taten, ohne spezifizieren zu können, was genau schmerzte. An meinem Arm hing ein Tropf, was mich auch nicht gerade beruhigte. Es schien Nacht zu sein, nur ein Lichtchen brannte über dem Bett. Aber irgendwo musste wohl eine Klingel oder so etwas sein. Ich tastete um mich und fand einen Knopf an der Wand. Eine Krankenschwester kam kurz darauf zu mir.
»Oh, Sie sind wach? Ich bin Schwester Beatrix. Wie fühlen Sie sich, Frau Ellingsen-Reese?«
»Ich sage es besser nicht. Was ist mit mir passiert?«
»Warten Sie, ich rufe sofort den Arzt. Der kann Ihnen mehr dazu sagen.«
Er kam lobenswert schnell und gab mir die gewünschten Auskünfte.
»Sie wurden mit einer Gehirnerschütterung, diversen Prellungen und oberflächlichen Wunden eingeliefert. Gestern Abend.«
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach fünf Uhr morgens.«
»Oh.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind nicht ernsthaft verletzt. Am besten schlafen Sie noch ein wenig.«
Das war zwar nicht der Rat, den ich zu hören wünschte, aber es gelang mir mühelos, ihn zu befolgen. Meine Neugier wurde dann am späten Vormittag befriedigt, zu meinem größten
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