Die Herrin Thu
nicht daran. So offen würde er seine Schuld nicht eingestehen. Er würde sich verstecken und abwarten, was geschah, und wenn meine Sache schlecht stand, würde er mit irgendeiner harmlosen Geschichte über seinen Aufenthaltsort zurückkehren. Doch im Augenblick war mir das einerlei. Mein Lager war weich, mein Magen voll vom besten Essen, das ich seit siebzehn Jahren gekostet hatte, und mein Sohn befand sich innerhalb bewachter Mauern im Haus seines Vaters. Zufrieden ließ ich mich in den Schlaf gleiten.
Das Geräusch von weiblichen Stimmen, die an meiner Tür vorbeikamen, weckte mich, und ein Weilchen wußte ich nicht, wo ich war. Ein Kind hatte einen Wutanfall, kreischte und wurde darauf von einem Erwachsenen gescholten. Mein Zimmer war noch dunkel, doch als ich die Füße auf den Boden stellte und schlaftrunken zur Tür ging und sie aufmachte, blendete mich jäh hereinströmender Sonnenschein. Es war bereits Vormittag. Vor mir auf den großen Rasenflächen lagerten Grüppchen von Frauen, die dicht beieinander plauderten oder unter weißen Sonnensegeln lagen, die träge in der erfrischenden Brise flatterten. Dienerinnen huschten zwischen ihnen hin und her. Braune Kinder planschten im Springbrunnen oder jagten Hunde, die aufgeregt bellten. Aus alter Gewohnheit schweifte mein Blick zu einer besonderen Stelle auf der anderen Seite des großen Gevierts, doch sie war leer.
Zu meinen Füßen bewegte sich etwas. Eine junge Frau kam hoch, lächelte und verbeugte sich. „Sei gegrüßt, Thu“, sagte sie. „Ich bin Isis, deine Dienerin. Hast du gut geschlafen?“ Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und unterdrückte ein Gähnen.
„Danke, Isis“, antwortete ich. „So gut wie seit Jahren nicht. Aber wie du siehst, bin ich nackt und brauche dringend ein Bad. Darfst du mir bringen, was ich haben möchte?“ Sie machte große Augen.
„Aber natürlich“, sagte sie. „Alles, was du willst. Du bist Ehrengast des Prinzen.“ Ich verkniff mir die Bemerkung, daß man mich, wenn ich tatsächlich Ehrengast wäre, nicht im Harem eingesperrt hätte, doch ich mochte diesem Kind nicht das Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit rauben.
„Gut!“ sagte ich. „Dann hol mir einen Umhang und sag den Dienerinnen im Badehaus Bescheid, sie sollen heißes Wasser vorbereiten. Treib einen Masseur und eine Kosmetikerin auf. Und nach dem Bad bringst du mir zu essen. Gibt es Kleider für mich?“ Sie kniff die Augen zusammen.
„Ich lasse eine Auswahl Hemdkleider, Sandalen und Schmuck kommen, darunter kannst du nach Belieben wählen“, sagte sie, verbeugte sich und wollte gehen.
„Noch eines“, sagte ich rasch. „Ich sehe, daß die Nebenfrau Hatia nicht an ihrem gewohnten Platz sitzt. Wo ist sie?“ Das Mädchen kräuselte die Stirn.
„Hatia?“ Dann wurde ihre Stirn wieder glatt. „Ach, Hatia! Die ist vor fünf Jahren gestorben. Ich war damals noch nicht hier, aber man erzählt sich, daß sie immer geschwiegen hat, und das von dem Tag an, als sie hier herkam, bis zu dem Tag, an dem man sie steif und starr auf ihrem Lager gefunden hat. Keine der Frauen hat sie je ein Wort sagen hören.“
Ich auch nicht, dachte ich betrübt. Ihr Diener, ein ebenso schweigsamer Mann, war einst zu mir gekommen und hatte mich in meiner Eigenschaft als Heilkundige gebeten, mich um sie zu kümmern, doch Hatia hatte das Gesicht zur Wand gedreht, als ich ihre Zelle betrat, und mir einen überwältigenden Eindruck von großem Elend und stillem Leiden vermittelt. Hatia, die Trinkerin. Ich hatte geargwöhnt, daß sie mir im Auftrag der Großen Königin Ast-Amasereth nachspionierte und dafür unbegrenzt guten Wein bekam. Ich hatte mich sogar gefragt, ob Hatia die vergiftete Feige auf meinen Teller gelegt hatte. Und wenn Disenk nicht so wachsam gewesen wäre, hätte ich sie gegessen und wäre gestorben. Doch wahrscheinlich galt ihr glasig-boshafter, prüfender Blick uns allen, den gesunden, schönen Frauen, die vor ihren Augen kamen und gingen. Ich hätte mich bei der Behandlung mehr bemühen, sie aushorchen müssen, doch dazu war ich damals zu selbstsüchtig und zu sehr mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen.
Ich schickte das Mädchen fort, und es entfernte sich schnellen Schrittes, während ich mich wieder hinlegte. Jetzt konnte ich Hatia nicht mehr helfen, konnte die vielen gedankenlosen Dinge nicht mehr gutmachen, die mir unter diesen bevorzugten und dennoch gefangenen Frauen unterlaufen waren. Selbst jetzt noch, da ich nur wenige
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