Die Herrin Thu
hatte. Vermutlich mußte ich davon berichten, schließlich war ich hier, um den Seher anzuklagen. Doch ich mochte nicht daran denken.
Die kleine Tür öffnete sich, und alles merkte auf, als nacheinander an die zehn Männer heraustraten und ihre Plätze auf Stühlen vor der Estrade einnahmen. Ich kannte keinen von ihnen. „Die Richter“, flüsterte Nesiamun als Antwort auf eine Frage von Kamen. „Und allesamt bedeutende Männer, doch wohl nicht alle unbefangen. Drei von ihnen sind keine Ägypter. Wir werden ja sehen.“ Ich blickte sie offen an, als sie sich niederließen, ihre knöchellangen Schurze um ihre Waden ordneten und sich mit leiser Stimme unterhielten. Der Saal warf ihr Geflüster als Gewisper zurück. Die meisten sahen aus, als stünden sie in mittleren Jahren oder wären älter, abgesehen von einem recht gutaussehenden jungen Mann mit scharfem Blick und raschem Lächeln.
Ihre Unterhaltung erstarb. Ich merkte, wie sie mich nachdenklich musterten. Natürlich wußten sie, wer ich war, denn sie hatten das gesammelte Beweismaterial gehört und gelesen, doch ihre kühlen Mienen ließen nichts erkennen. Angst durchfuhr mich. Vielleicht hatten sie die Beweise nicht stichhaltig gefunden. Vielleicht waren sie zu dem Urteil gekommen, es könne nicht möglich sein, daß so mächtige und einflußreiche Männer wie Paiis und Hui sich des Hochverrats schuldig gemacht hatten und daß ich log und jetzt nach siebzehn Jahren endlich die richtige Strafe erdulden mußte. Doch Ramses hatte mich begnadigt. Der Prinz hatte die Beweise gegen diese Männer für stichhaltig genug befunden, um einen Prozeß anzuberaumen. Ich war dumm, wenn ich mein Selbstbewußtsein von der Umgebung und ein paar Männern mit feierlichen Mienen erschüttern ließ.
Die hintere Tür öffnete sich erneut, und dieses Mal standen alle auf und verbeugten sich mit ausgestreckten Armen, denn ein Herold war erschienen und rief: „Der Horus-im-Nest, Befehlshaber der Fußsoldaten, Oberbefehlshaber der Horus-Division, Prinz Ramses, den Amun liebt“, und hinter ihm kam der Prinz, gar prächtig in militärischer Paradeuniform angetan. Flankiert von seinen Adjutanten schritt er zu dem dritten Stuhl auf der Estrade und nahm Platz, schlug die Beine über und blickte in den Saal hinunter. „Richtet euch auf und setzt euch“, schloß der Herold, nahm seinen eigenen Platz an der Estradenkante zu Ramses’ Füßen ein, und ich setzte mich wieder und musterte den Mann, nach dem sich mein Körper so heiß gesehnt hatte.
Er mußte Anfang zwanzig gewesen sein, als ich ihn zum ersten Mal im Schlafgemach seines Vaters gesehen und ihn mit dem Pharao verwechselt hatte. Mit seinem vollkommenen Soldatenleib, der Anmut seiner Bewegungen, seinen wunderbar ebenmäßigen Gesichtszügen, die von zwei durchdringenden braunen Augen beherrscht wurden, war er die Erfüllung meiner mädchenhaften Träume gewesen, denn das hatte ich mir ausgemalt, wenn ich vor das Antlitz von Ägyptens Gott träte. Doch damals war er lediglich ein Prinz und von Geburt nicht einmal der älteste Königssohn und war wie zwei seiner Brüder Ramses genannt worden. Der Mann, zu dem mich Hui gebracht hatte, der Gott, der die wirkliche Macht in Händen hielt, war eine bittere Enttäuschung gewesen. Da er rundlich, lüstern und scheinbar leutselig war, hatte ich lange gebraucht, bis ich hinter dem nichtssagenden Leib und der erschreckend hausbackenen Persönlichkeit die Würde und klarsichtige Klugheit eines Gottes erkannte. Prinz Ramses liebte es, viel Zeit allein in der Wüste zu verbringen, wo er jagte oder mit dem Roten Land Zwiesprache hielt. Er hatte das Bild des Gütigen und Unvoreingenommenen gepflegt, doch ich hatte entdeckt, daß diese Maske einen ebenso großen Ehrgeiz wie meinen verbarg. Er hatte mich genauso bereitwillig benutzt, um die
Zustimmung seines Vaters zu erlangen, wie Hui den Tod des Pharaos wollte, und die Enttäuschung hatte mir schwer zu schaffen gemacht.
Als ich ihn jetzt so musterte, bemerkte ich erste Anzeichen der mittleren Jahre. Offensichtlich trieb er noch immer regelmäßig Sport, und sein Körper war straff. Dennoch hatte er um die Mitte herum angesetzt, und sein Gesicht besaß nicht mehr die festen Konturen, die den Blick unwiderstehlich auf sich zogen. Über den Armreifen des Befehlshabers an seinen Oberarmen wölbte sich etwas Fleisch, und als er sich bückte, um ein kurzes Wort mit dem Herold zu wechseln, zeigte sich unter seinem Kinn die Andeutung eines
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