Die Herrin Thu
den Residenzsee bewachten. Hier wurde ich angerufen, doch die Worte waren reine Formalität. Ich kannte diese Männer gut. Sie ließen mich durch, und ich ging weiter.
Die Wasser von Avaris erweiterten sich zu dem großen See, der im geziemend würdig-langsamen Rhythmus gegen die geheiligten Bezirke des Vollkommenen Gottes Ramses III. schwappte und gegen die ebenfalls von Mauern umgebenen Anwesen zwischen mir und der hochragenden Mauer, die den Pharao vor den Blicken gewöhnlicher Menschen schützte. Schicklich hingen die Wipfel üppiger Bäume über diese mächtigen Bauten aus Lehmziegeln und warfen, als ich unter ihnen dahinschritt, Lichtflecken auf mich, auch wenn die Schatten allmählich dunkel wurden. Wo die Mauern von hohen Pforten durchbrochen waren, führten diese zu marmornen Bootstreppen und schnittigen Booten, deren farbenprächtige Flaggen in der abendlichen Brise flatterten und auf denen sich Soldaten scharten. Ich salutierte fröhlich, und sie begrüßten mich mit lauten Zurufen.
An diesem geheiligten Seeufer wohnten die Männer, in deren Hand Ägyptens Wohlergehen lag. Ihre Macht verlieh dem Königreich Wohlstand und Lebenskraft. Sie wahrten das Gleichgewicht der Maat, deren zartes Netz unter der Herrschaft des Pharaos aus den Gesetzen der Götter und Menschen gewoben wurde. Hier wohnte auch To, der Iri-pat beider Königreiche, hinter Toren aus massivem Elektrum. Der Hohepriester Amuns, Usermaarenacht, mit seiner erlauchten Familie hatte seinen Titel auf dem Steinpylon einmeißeln lassen, unter dem seine Gäste hindurchgehen mußten, und seine Wache trug goldgepunztes Leder. Der Bürgermeister der heiligen Stadt Theben und Erster Steuereinnehmer des Pharaos, Amunmose, schmückte sich mit einer lebensgroßen Statue des Gottes Amun-Re, einst Schutzgott von Theben allein, mittlerweile Gott über alle Götter, so stand er mit verschränkten Armen und gütig lächelnder Miene auf dem Pflaster zwischen Bootstreppe und Eingang. Ich huldigte ihm, als ich an seinen gewaltigen Knien vorbeischritt. Das Heim von Bakenkhons, Aufseher des königlichen Viehs, war vergleichsweise bescheiden. Hier wollte gerade eine Gesellschaft an Bord gehen, Frauen in hauchdünnem, dicht mit Juwelen besetztem Leinen, die im schwindenden Licht der Sonne rot aufblitzten, Männer mit Perücken und Bändern, deren geölte Leiber glänzten. Ich wartete ehrerbietig, während man ihnen in die Kabine des Floßes half, das am Fuß der Bootstreppe schaukelte. Bakenkhons höchstpersönlich erwiderte meine Verbeugung mit einem herzlichen Lächeln, dann wurde das Floß in einem Strudel dunklen Wassers davongestakt. Ich ging weiter.
Die Schatten wurden länger, legten sich jetzt auch über mich und über das Seeufer, und als ich zum Anwesen des berühmten Sehers kam, blieb ich stehen. Die Mauer, die sein Haus und Grundstück umgab, unterschied sich in nichts von den Mauern, an denen ich vorbeigekommen war. In der Mitte wurde sie von einem kleinen und sehr schlichten Pylon ohne Tore durchbrochen, so daß Vorbeigehende einen Blick in den Garten werfen konnten. Im linken Pfeiler des Pylons gab es eine Nische, in der ein schweigsamer alter Mann saß, der, solange ich zurückdenken konnte, noch nie meinen Gruß erwidert hatte, wenn ich vorbeischritt. Mein Vater, der den Seher regelmäßig in Geschäften aufsuchte, hatte mir erzählt, daß der Alte nur diejenigen grüßte, die durch den Pylon schreiten wollten, und auch dann schickte er gleich ins Haus und bat um Erlaubnis, den Besucher durchzulassen. Als ob der jemanden davon abhalten könnte, sich an ihm vorbei in den Garten zu drängen, überlegte ich. Dazu ist er zu gebrechlich. Dennoch beschäftigte der Seher keine Wachtposten vor der
Mauer. Im Haus hatte er durchaus Wachen, so hatte mein Vater berichtet, die ihrer Arbeit still und gewissenhaft nachgingen, doch als ich so dastand, mich mit einer Hand an die noch sonnenwarmen Ziegel der Mauer stützte, die Augen auf den verzerrten Schatten gerichtet, der den Eingang zum Bereich des Sehers kennzeichnete, da begriff ich, warum er draußen keine Soldaten brauchte. Der Pylon glich einem ewig gähnenden Schlund, der den Unachtsamen verschlucken wollte, und ich hatte gesehen, wie Menschen auf dem Weg im Vorbeigehen unbewußt einen Bogen machten. Selbst im kalten Licht des Mondes war auch ich oft zur Bootstreppe abgeschwenkt. Jetzt kroch der Schatten des Pylons über den Weg, und ich mußte mich zwingen, mich aufzurichten und weiterzugehen.
Mein Vater
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