Die Herrin Thu
sie, und ihre Augen schossen wachsam von einem zum anderen. „Wer seid ihr, und was wollt ihr? Falls ihr nach einem Priester sucht, demnächst kommt einer und hält die Morgenandacht. Geht den Weg zurück und wartet im Vorhof auf ihn.“ Sie war vollkommen ruhig, vollkommen überzeugend.
Ich spürte, daß sich der Mann neben mir Sorgen machte. Er wartete eine Spur zu lange mit der Antwort. Beinahe konnte ich seine Gedanken lesen: Sie sind zusammen und draußen, sie und er. Was würde er machen? Würde er sagen: „Ich bin gekommen, dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festzunehmen“, und das Spiel beenden, das mein fiebriges Hirn erdacht hatte? Er machte ganz kurz den Mund auf, während wir alle drei angespannt warteten. Dann merkte ich, daß ich sie klarer sehen konnte, obwohl ihr Gesicht im kühlen Licht des frühen Morgens noch verschwommen war. Sie hielt ihren Umhang allzu fest zu.
„Ist das die Frau?“ Seine Stimme war ausdruckslos. Ich wagte nicht, ihn anzusehen.
„Sie ist es.“
„Bist du dir sicher?“ Ich biß die Zähne zusammen.
„Ja.“ Er nickte, dann redete er sie direkt an.
„Frau aus Aswat“, sagte er. „Ich bin gekommen, dich wegen eines kleineren Vergehens, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festzunehmen. Ich soll dich nach Norden bringen. Geh in dein Haus und hole die Dinge, die du vielleicht brauchst.“ Der Schreck fuhr mir in die Glieder, und ich konnte sehen, daß auch sie nichts mehr begriff und große Augen machte.
„Wie? Mich verhaften? Ist das alles?“ Sie schrie es fast. „Wie lautet die Anklage? Wo ist dein Haftbefehl?“
„Ich brauche keinen Haftbefehl. Du sollst nur für kurze Zeit festgehalten werden.“ Sie blickte mich, dann ihre Tür, dann wieder ihn an.
„In diesem Fall nehme ich nichts mit“, sagte sie entschieden. „Sollen doch die Behörden für mich sorgen. Man hat mich nicht benachrichtigt! Was wird meine
Familie denken, wenn ich so einfach verschwinde? Weiß der Schulze von Aswat von dieser Sache?“
„Man wird sie benachrichtigen. Offizier Kamen, geh zum Boot zurück und sag den Ruderern, sie sollen die Laufplanke auslegen und alles zum Aufbruch bereitmachen.“ Natürlich. Ich schluckte. Wie schlau diese Posse doch war, wie hervorragend eingefädelt. Ich wurde noch immer nicht schlau aus ihr, aber wir beide, sie und ich, mußten bis zum Schluß mitspielen. Ich salutierte und fing ihren Blick auf, als ich mich umdrehte. Ihre Miene war ausdruckslos.
Als ich außer Sicht war, zog ich das Schwert aus der Scheide und verließ den Weg, zog mich ins Gebüsch zurück, verbarg mich völlig, doch den Weg, den sie nehmen mußten, konnte ich noch immer einsehen. Inzwischen wurde es heller. Jeden Augenblick konnte Re am Horizont aufgehen, und schon begann über meinem Kopf das schlaftrunkene Gezwitscher des Frühchores. Ich setzte meine ganze Hoffnung auf die Folgerung, daß er ein Stück mit ihr gehen würde, bis ihm die Bäume auf einer Seite und die Tempelmauer auf der anderen Schutz boten, während sie arglos und mit ungeschütztem Rücken vor ihm ging. Würde er versuchen, ihr die Hände zu fesseln? Falls er es tat, würde er meinen Dolch entdecken.
Sie kamen fast sofort, sie vor ihm, er dicht hinter ihr. Sie blickte zu Boden, er ließ rasch den Blick schweifen, nach rechts, nach links und nach hinten, und während ich noch mit gezogenem Schwert im Gebüsch kauerte, griff er in seinen Umhang und zog mit einer geschmeidigen Bewegung die Garotte heraus. Er wickelte sie ab, ergriff die Holzklötzchen, beugte sich vor, warf ihr den Draht mit einer einzigen fast anmutigen, doch brutalen Bewegung über den Kopf und zog zu.
Irgend etwas, ein leiser Lufthauch, ein winziges Geräusch mußte sie gewarnt haben. Ihre Hand fuhr hoch, griff zwischen Draht und Hals, dann warf sie sich nach vorn, und er verlor das Gleichgewicht. Ich sprang auf und lief zum Weg, und da sah ich, daß ihre andere Hand in den Falten des Umhangs suchte. Er hatte sich schon wieder gefaßt, ließ seine Garotte los, legte ihr einen Arm unters Kinn, ohne sich um ihre fuchtelnden Gliedmaßen zu kümmern, und unversehens hatte er das gezackte Messer in der Hand. Sie wollte schreien, brachte jedoch nur einen erstickten Laut zustande.
Plötzlich war ich vollkommen ruhig. Das Schwert lag fest in meiner Hand. Die Zeit verlangsamte sich. Jetzt hatte ich sie erreicht, stürmte auf sie ein, doch meine Augen registrierten noch den Lehmklumpen am wirbelnden Saum seines Umhangs, einen
Weitere Kostenlose Bücher