Die Herrin von Avalon
auch eine Bestimmung, die sie erfüllen mußte?
Was würde ihre Bestimmung sein? Und was würde die Zukunft ihm bringen?
3. Kapitel
Als die Wintersonnwende näher rückte, wurde es kalt, naß und dunkel. Selbst die Ziegen wollten nicht mehr den ganzen Tag auf die Weide. Gawen suchte immer öfter Schutz in der Nähe der bienenkorbähnlichen Hütten der Christen, wo sich die Wiesen bis zum Fuß des Tors erstreckten. Als er zum ersten Mal die Gesänge aus dem großen, runden Gebäude hörte, das die Christen ihr Heiligtum nannten, blieb er in gebührender Entfernung stehen. Aber alles, was er von weitem hörte, beeindruckte ihn. Deshalb ging er Tag für Tag näher. Er erklärte sich seine Neugier mit dem Regen oder dem Schutz vor dem kalten Wind, den die Wände boten, von denen aus er die Ziegen im Auge behalten konnte. Wenn einer der Mönche auftauchte, versteckte er sich, doch die langen, feierlichen Gesänge waren der eigentliche Grund dafür, daß er die Stunden auf den Weiden bald regelmäßig dort verbrachte.
Eines Tages kurz vor der Wintersonnwende schien der Platz im Schutz der Mauer besonders einladend zu sein. In der Nacht hatte er einen Alptraum gehabt, in dem seine Mutter auf dem Scheiterhaufen ihren Sohn anflehte, sie zu retten. Gawen sah voll Verzweiflung, wie sie verbrannte, aber im Traum wußte er nicht, daß er der ›Sohn‹ war, nach dem sie rief. Beim Erwachen erinnerte er sich daran und weinte, weil es zu spät war, um sie zu retten. Er konnte ihr noch nicht einmal sagen, daß er sie aus ganzen Herzen geliebt hätte, wenn ihm die Möglichkeit dazu gegeben worden wäre.
Er zog den dicken Schaffellumhang enger um sich und drückte sich an das verputzte Flechtwerk. Die Gesänge schienen ihm heute besonders schön. Es lag eine unbeschreibliche Freude darin, obwohl er die Worte der Mönche nicht verstand. Ihre Lieder vertrieben die Ängste der Nacht wie das erste Sonnenlicht, unter dessen warmen Strahlen das Eis schmolz. Sein Blick richtete sich unverwandt auf das Regenbogenlicht der Eiskristalle. Allmählich wurden seine Lider schwer, und er schlief ein.
Er wachte auf, weil alles still war. Das Singen hatte aufgehört, und das Tor des Heiligtums wurde geöffnet. Zwölf alte Männer in grauen Gewändern kamen heraus. Gawen duckte sich mit klopfendem Herzen wie eine Maus, die den Schrei der Eule hört, und hoffte, sie würden ihn nicht bemerken. Der letzte in der langen Reihe war ein kleiner Mann mit schneeweißen Haaren, den das Alter gebeugt hatte. Er blieb stehen und sah sich prüfend um. Es dauerte nicht lange, und die blauen Augen richteten sich auf Gawen. Der Mann kam ein paar Schritte näher und nickte ihm zu.
»Ich kenne dich nicht. Bist du ein junger Druide?«
Ein großer Mönch mit schütterem Haar und fleckiger Haut war ebenfalls stehen geblieben und blickte mißbilligend auf Gawen. Doch der Alte hob abwehrend oder segnend die Hand, und der andere folgte seinen Brüdern mit gerunzelter Stirn zu den Hütten.
Gawen stand auf. Die liebenswürdige Art des alten Mannes beruhigte ihn.
»Ich bin kein Druide, Herr. Ich bin ein Waisenkind. Meine Stiefmutter hat mich hierher gebracht, weil ich keine Verwandten mehr habe. Aber meine Mutter war eine Priesterin, deshalb soll ich wohl ein Druide werden.«
Der alte Mönch hob überrascht die buschigen Brauen. »Wirklich? Ich dachte immer, die Priesterinnen hätten Keuschheit gelobt wie unsere Nonnen und würden nicht heiraten und auch keine Kinder haben.«
»Das stimmt«, erwiderte Gawen und erinnerte sich an Eilneds Bemerkungen. »Einige sagen, ich hätte nicht geboren werden sollen, andere, meine Mutter und ich wären besser tot.«
Der alte Mönch sah ihn freundlich an. »Als unser Herr noch unter uns weilte, hatte er selbst mit der Ehebrecherin Mitleid. Er hat sie nicht verurteilt, sondern ihr nur gesagt, sie solle nicht mehr sündigen. Und er hat gemeint, das himmlische Königreich gehöre den unschuldigen Kindern. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß er wissen wollte, ob ein Kind in den Augen der Menschen rechtmäßig auf die Welt gekommen sei. Alle Seelen kommen von Gott, und sie sind aus SEINER Sicht alle gleich.«
Gawen runzelte die Stirn. Besaß sogar seine Seele in den Augen dieses alten Mönchs einen Wert? Er zögerte kurz, aber dann wagte er doch, ihn das zu fragen.
Der Mönch lächelte und antwortete: »Im Angesicht des wahren Gottes, mein kleiner Bruder, sind alle Seelen der Menschen gleich. Deine ebenso wie die eines
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