Die Herrin von Avalon
Augenblick an vertraute er der Fee.
Sie lächelte und schien seine Gedanken zu erraten. »Es ist etwas ganz anderes, herauszufinden, wer du bist . Das zu erkennen, mußt du noch lernen, und dabei werde ich dir helfen.«
Sianna reichte Gawen die Hand und zog ihn neben sich in eine Mulde.
»Wir können die Hirsche von hier beobachten«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Hier sehen wir alles.«
Gawen kauerte ganz ruhig neben ihr. Die plötzliche Nähe machte ihm jedoch bewußt, daß sie ein gleichaltriges Mädchen war. Bislang hatte er kaum Gelegenheit gehabt, ein Mädchen zu berühren. Eilan, Caillean und die Priesterinnen schienen im Grunde keine Frauen zu sein. Dinge über Männer und Frauen, die er zwar öfter gehört, aber nie verstanden hatte, fielen ihm wieder ein. Er spürte, wie er über und über rot wurde, und drückte verlegen das Gesicht in das kühle Gras. Er dachte an Siannas seidige Haare und atmete benommen den Geruch des gegerbten Fells, das sie trug.
Sianna stieß ihn plötzlich in die Seite und flüsterte: »Schau!«
Eine Hirschkuh kam langsam auf die Lichtung. Die schmalen Hufe schienen fast zu klein, um das Gewicht des großen Tieres zu tragen. Dicht hinter ihr folgte ein halbwüchsiges Kitz. Die hellen Flecken verschwanden bereits im flauschigen Winterfell. Das Kleine folgte geduldig seiner Mutter, aber im Gegensatz zu ihr, die sich sicher und mühelos bewegte, wirkte das Kalb manchmal linkisch und dann wieder anmutig.
Gawen mußte unwillkürlich lächeln. Auch er glaubte häufig, er sei unbeholfen und schwerfällig. Die Hirschkuh blieb mitten auf der Lichtung stehen, hob den Kopf und prüfte den Wind. Sie mußte etwas gehört oder eine Gefahr gewittert haben, denn sie verschwand mit großen Sätzen unter den Bäumen. Das Kalb stand einen Augenblick wie erstarrt auf der Lichtung und folgte dann seiner Mutter.
Gawen atmete langsam aus. Ihm wurde erst jetzt bewußt, daß er die Luft angehalten hatte.
Eilan, meine Mutter, war wie die Hirschkuh. Sie hat mich kaum beachtet und wußte nicht, wer ich eigentlich war ... Der vertraute Schmerz erfaßte ihn wieder, aber zum ersten Mal schien die Vergangenheit nicht mehr so qualvoll und bitter zu sein, denn die Erinnerung verblaßte langsam, während Sianna an seiner Seite die Gegenwart war. Er wollte sich aufsetzen, aber sie hielt ihn zurück. Vor seinen staunenden Blicken erschien am Rand der Lichtung ein großer Schatten. Er hörte, wie Sianna unwillkürlich Luft holte, als langsam ein majestätischer Hirsch mit weit ausladendem Geweih aus dem Wald auf die Lichtung trat. Er hielt den Kopf hoch und schritt gemessen und würdevoll auf sie zu.
Der Hirsch blieb einen Augenblick lang stehen, als könne er Gawen hinter den Zweigen des Haselnußstrauchs sehen.
Sianna flüsterte: »Der Königshirsch! Er ist gekommen, um dich zu begrüßen! Ich habe die Hirsche manchmal einen Mond lang beobachtet und ihn nicht gesehen!«
Gawen stand unwillkürlich auf. Ihre Blicke trafen sich. Dann ließ der Hirsch die Ohren spielen, drehte sich abrupt zur Seite und war mit wenigen Sätzen verschwunden. Gawen biß sich enttäuscht auf die Lippen, denn er dachte, es sei seine Schuld, daß der Hirsch nicht länger geblieben war. Doch im nächsten Augenblick zischte ein schwarz gefiederter Pfeil in hohem Bogen durch die Luft und bohrte sich dort in die Erde, wo der Hirsch gestanden hatte. Ein zweiter folgte. Inzwischen war das ganze Rudel aufgeschreckt und brach mit lautem Krachen durch das Unterholz. Kurz darauf war nichts mehr zu sehen als die zitternden Zweige.
Gawen blickte verblüfft auf die Stelle, wo der Königshirsch gestanden hatte, und in die Richtung, aus der die Pfeile geschossen worden waren. Zwischen den Bäumen erschienen zwei Männer und hielten zum Schutz gegen die Nachmittagssonne die Hände über die Augen.
»Halt!«
Die Fee bewegte die Lippen, aber ihre Stimme schien von allen Seiten zu kommen. Die Jäger blieben wie angewurzelt stehen und sahen sich unsicher um.
»Diese Beute ist euch nicht bestimmt!«
»Wer verbietet uns ... «, begann der größere der beiden, aber sein Gefährte machte ein Zeichen gegen das Böse und bedeutete ihm zu schweigen.
»Der Wald verbietet es euch und die Göttin, die allen das Leben schenkt. Anderes Wild könnt ihr jagen, denn jetzt ist die Zeit dafür, aber diesen Hirsch nicht. Er ist der König. Wagt nicht, ihn noch einmal zu verfolgen.«
Beide Männer begannen, am ganzen Leib zu zittern. Ohne die Pfeile zu holen,
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